Angst vor Hobbyregisseuren: KI kann jetzt auch Musikvideos

Kolumne Die Firma OpenAI hat ein neues KI-Modell vorgestellt, das auf Befehl Videos produziert. Ob nun jeder rappende Teenager sein eigenes Musikvideo produzieren kann?
Ausgabe 08/2024
Ein Videodreh – egal, wie gut oder schlecht die Idee sein mag – ist immer teuer.
Ein Videodreh – egal, wie gut oder schlecht die Idee sein mag – ist immer teuer.

Foto: Imago/Pond5 Images

In ihrer Autobiografie Tranny schreibt die US-amerikanische Sängerin Laura Jane Grace der Punkrock-Band Against Me! über das Musikvideo zu einem ihrer bekanntesten Songs: „(…) als Kompromiss einigten wir uns auf die Idee eines anderen Regisseurs, die sich gezwungen und altbacken anfühlte. Sie zeigte die Band, wie sie in einem Keller spielt, darüber eine vornehme Party. Die Partygäste in Anzügen und Cocktailkleidern verschütteten Wein, der dann auf uns von der Decke tropfte. (…) Wir verschwendeten unser Geld, fast 100.000 US-Dollar, für ein desaströs schlechtes Video.“

Unabhängig von der Entstehungsgeschichte kam das Video zum Song Thrash Unreal gut an, wurde zum ersten US-Charts-Erfolg der Band. Ohne das Wissen um die Entstehungsgeschichte des Videos fiele es gar nicht so sehr auf, dass hier mit viel Aufwand ein recht inspirationsloser Einfall umgesetzt wurde. Das war im Jahr 2007. Der Musiksender MTV war noch popkulturell vergleichsweise dominant, wenngleich sich das Ende des klassischen Musikfernsehens im Zuge einer zunehmenden Verlagerung ins Internet bereits abzeichnete. Von blöden Ideen eingekaufter Regisseure sowie enormen Budgets für anstrengende Drehtage können sicherlich viele Künstler*innen, die in dieser Zeit ein Musikvideo drehen mussten – tatsächlich hatten viele qua Labelvertrag keine große Wahl –, ein, nun ja, Lied singen.

Auch im digitalen Zeitalter sind Musikvideos für viele Bands und Künstler*innen im Kampf um die harte Währung Aufmerksamkeit wichtig. Aber: Ein Videodreh – egal, wie gut oder schlecht die Idee sein mag – ist immer teuer. Für Kreative ohne riesiges Budget bleiben als Alternative Videocollagen oder „Lyric Videos“, die lediglich den Songtext grafisch untermalen und ganz ohne Dreh auskommen.

Bald könnte sich das aber ändern. Das US-amerikanische Unternehmen OpenAI, das bereits für das bekannte textbasierte Sprachmodell ChatGPT verantwortlich ist, hat gerade seine neueste Technologie „Sora“ vorgestellt. Sora ist ein Text-zu-Video-Modell, macht es also möglich, aus einer einfachen Texteingabe ein fotorealistisches Video zu generieren. Die Ergebnisse sind durchaus beeindruckend: Handelt es sich nicht gerade um ein offenkundig surreales Video – wie etwa das eines Einsiedlerkrebses, der mit einer leuchtenden Glühbirne als mobiler Behausung einen nächtlichen Strand absucht –, sind sie zuweilen schwer von echtem Material zu unterscheiden.

Ist das nun dystopisch – weil sich selbst Videomaterial bald nicht mehr so leicht in „echt“ und „fake“ einteilen lassen wird? Ist es gar verwerflich – weil eine ganze Industrie, von der Lichttechnikerin bis zum Bühnenbildner, darunter leiden wird?

„Das Kino, die teuerste (aber auch beste und tiefgründigste) Kunstform überhaupt, ist im Begriff, vollständig demokratisiert zu werden“, schrieb die kanadische Musikerin Grimes auf der Plattform X. So kann man es auch betrachten: Kein Major-Label mit Verkaufszahlen im Kopf, kein Regisseur mit eigenwilligen Visionen, kein fünfstelliges Budget, nicht einmal schlechtes Wetter am Set stünde demnächst der visuellen Untermalung eines Songs im Weg – alles, was zählt, wäre die Idee.

Jeder rappende Teenager, jede Schlagersängerin, jede Hobby-Kapelle mit Westerngitarre und Bongos – einfach jeder, der eine Tastatur bedienen kann, könnte demnach ein Musikvideo produzieren. Ich will ganz ehrlich mit Ihnen sein, liebe Leserinnen und Leser: Das macht mir dann schon Angst.

Konstantin Nowotny schreibt beim Freitag die Musikkolumne. Darüber hinaus schreibt er öfter über Themen rund um die Psyche und hin und wieder über Ostdeutschland

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