Österreichs Verkehrspapst: „Das Auto ist wie ein Virus. Es befällt das Gehirn“
Interview Hermann Knoflacher ist überzeugt: PKWs haben die Kontrolle über unsere Gehirne übernommen. Deswegen fällen Politiker und Verkehrsplaner ständig autofreundliche Entscheidungen. Wie können wir den „Virus Auto“ bekämpfen?
„Autos mit mehr PS bringen ja gar keine Zeitersparnis für uns“, sagt Ingenieur Hermann Knoflacher
Foto: Aleksandr Anufriev für der Freitag
Hermann Knoflacher ist ohne sein „Gehzeug“ nach Berlin gekommen – ein Gestell für Fußgänger, das den Raum markiert, den ein Auto einnimmt. Wenn man erwähnt, dass Parken für Anwohner in Berlin 20 Euro im Jahr kostet, schaut er irritiert. Vor dem Ladenlokal seines Verlages in Wilmersdorf sind Parkplätze sogar gratis: Dafür hatten Anwohner protestiert.
der Freitag: Herr Knoflacher, Sie bezeichnen das Auto als ein Virus. Sind wir krank?
Hermann Knoflacher: Nun, sowohl die einzelne Person als auch die Gesellschaft ist von einem Virus befallen. So betrachtet, ja, werden sie krank. Tatsächlich ist der Begriff Virus keine Metapher, sondern wissenschaftlicher Fakt. Wenn man die Funktionsweise des Gehirns untersucht, wird einem klar, wo das Aut
den sie krank. Tatsächlich ist der Begriff Virus keine Metapher, sondern wissenschaftlicher Fakt. Wenn man die Funktionsweise des Gehirns untersucht, wird einem klar, wo das Auto sitzt: auf der Ebene der Energieverrechnung. Heißt: im Stammhirn, auf den unteren Ebenen, die alles beherrschen.Wie wirkt das Auto auf unser Stammhirn?Während des Autofahrens arbeiten Mechanismen im Unterbewusstsein. In dem Moment, in dem sich jemand ins Auto setzt, ist er gegenüber Fußgängern oder Radfahrern massiv bevorzugt. Er braucht wesentlich weniger Energie. Dann ist da noch die plötzliche Macht des Motors. Seine 0,1 bis 0.2 PS werden plötzlich 100, 200 oder mehr Pferdestärken. Das verändert die Wahrnehmung und das Denken.Verändert es auch die Politik?Natürlich. Wenn das Virus im Kopf wirkt, unterwerfen sich ihm die Verkehrsplaner, Politiker und Bürger. Dann werden Gesetze und Vorschriften erlassen, die etwa die Spurbreite von Straßen zugunsten von Autos regeln.Autos stehen für Bequemlichkeit.Selbstverständlich. Aber der Eigennutz ist immer sehr kurzsichtig. Probleme, die mit dem Auto entstehen, haben langfristige Wirkungen, die wir nicht direkt voraussehen können. Wir können nicht direkt beobachten, wie sich beispielsweise der Städtebau dadurch verändert. Wir nehmen an, dass wir Zeit einsparen, wenn wir schneller von A nach B kommen, aber im Verkehrssystem gibt es keine Zeiteinsparungen. Das haben wir aufdecken können.Warum ist das so?Wenn das System schneller wird, ändern sich auch die Entfernungen, die wir zurücklegen, es entstehen ganz neue Beziehungen.Ein Nullsummenspiel?Nein, physikalisch ist das kein Nullsummenspiel. Der Energieaufwand, um Freunde zu besuchen, die immer entfernter wohnen, steigt. In der Folge nimmt der Flächenverbrauch zu, wir wohnen weiter weg von der Arbeit, es gibt mehr Emissionen. Am Ende installieren wir Feinstaubgrenzwerte, die sich eher am Verkehr orientieren als an unserer Gesundheit.Gegen Viren kann man medizinisch nicht viel tun. Ärzte verschreiben Medikamente zur Linderung von Symptomen.Man kann sich gegen Viren schützen, indem man eine möglichst virenfreie Umgebung schafft.Wenn Gesellschaft und kulturproduzierende Dimensionen davon erfasst sind, wird das schwierig, oder?Das ist ja das Schlimme. Das Auto wird zum Segen der Menschheit erklärt. Weil, wenn man so will, das Auto das so wünscht. Aber man kann mit der Therapie vorgehen, die auch die Medizin vorschlägt: das Ankoppeln verhindern. Beim Virus entsteht eine physische Bindung. Beim Auto genauso. Wir haben dafür sehr gute empirische Befunde. Zum Beispiel: Wenn der Abstand zum abgestellten Auto zunimmt, nimmt die Wahrscheinlichkeit zu, dass man andere Verkehrsmittel wählt. Jeder Mensch versucht so bequem wie möglich zu leben. Nun beobachten wir bei anderen gesellschaftlichen Problemen, zum Beispiel Adipositas oder Drogenabhängigkeit, dass dagegen etwas unternommen wird. Nicht so beim Auto. Die Leitungsgremien, meine lieben Kollegen aus oberen Verwaltungsebenen, laufen mit dem Virus im Kopf herum. Und am Ende kommt bei ihrer Arbeit immer dasselbe raus: autofreundliche Verkehrsplanung.Wenn autofreie Stadtviertel geplant werden, rebellieren die Bürger oft, weil sie ihren Pkw vor dem Haus abstellen wollen. Wie geht man mit Reaktanz um als Verkehrsplaner?Indem man gute Lösungen findet. Man kann das in Freiburg feststellen: Wenn Sie das Auto aus den Planungen herausrechnen, können Sie kleinere Parzellen planen, es gibt mehr Fußgängerquerverbindungen. Das führt zu mehr Nahbeziehungen, Handwerk, Geschäfte haben Raum, die Stadt entwickelt das lebendige Netzwerk eines Organismus. Das erhöht die Lebensqualität. Was wir im Moment in den Städten sehen, ist ein zerschnittener Organismus.Im politischen Raum werden dagegen die Krankenschwester mit Schichtbetrieb, der Handwerker mit Werkzeugfuhren und Menschen mit eingeschränkter Mobilität in Stellung gebracht. Obwohl in Berlin etwa 94 Prozent der Mobilitätseingeschränkten gar nicht selbst Auto fahren.Die Umstellung auf autofreie Zonen ist wie eine Operation ohne Narkose: Die muss man sehr gut vorbereiten und vor allem schnell umsetzen. Man muss Alternativen entwickeln, die die Einschränkungen für das Auto kompensieren. Man braucht eine Verwaltung, die einen unterstützt. Und muss darauf achten, dass der verantwortliche Politiker Erfolg hat. Das ist entscheidend. Mich rief einmal ein konservativer Politiker vor Wahlen an. Der wollte wiedergewählt werden in einer Stadt, für die ich das Verkehrskonzept entwickelt habe. Er wünschte sich, dass meine Nase da in den nächsten drei Monaten nicht auftauchen sollte. Er hatte verstanden, dass das Verkehrskonzept in die Zukunft weisen würde, aber er wollte die Konfrontation entschärfen.Wie ging das aus?Er hat die Wahl gewonnen, alles ging reibungslos über die Bühne.Ich finde in Ihrem Buch einen Begriff von Politik, der von Verantwortung und Weitsicht geprägt ist. Heute werden Probleme behauptet, allerlei irrsinniges Zeug als Fakten hingestellt, Scheinlösungen propagiert. Ist Ihre Analyse noch zeitgemäß?Da haben Sie recht. Heute wird häufig von der eigenen Unfähigkeit abgelenkt.Wie soll man damit umgehen?Gar nicht. So etwas muss man, sagt man in Österreich, aufblatteln.Enttarnen?Ja. Man muss darauf hinweisen, was für Konsequenzen einzelne Entscheidungen im Verkehrssystem haben. Mehr Fahrbahnen ziehen mehr Verkehr nach sich, erhöhen also mittelfristig nicht die Fließgeschwindigkeit. Breit ausgebaute Straßen laden zum Schnellfahren ein. In gewisser Weise ist es dann schizophren, dagegen Tempolimits einzuführen. Mit solchen Erkenntnissen müssen Sie politische Vorhaben diskutieren. Ich habe zum Beispiel viele Jahre den SPÖ-Verkehrsminister Karl Lausecker beraten, dem haben auch seine Parteifreunde mit Vorschlägen in den Ohren gelegen, weil sie Milliarden aus öffentlichen Haushalten in die Gegenden, die sie vertraten, lenken wollten. Ich habe immer versucht, zu zeigen, was diese Vorschläge für Konsequenzen haben. Ich habe ihn überzeugen können, er hat dann ab und zu seine Unterschrift verweigert.Klingt nach politischen Prozessen, die wenig mit dem heutigen Populismus zu tun haben …Das stimmt, so ein Pragmatismus ist oft verloren gegangen.Hier in Berlin wird heftig über eine Verteilung von Raum im Straßenverkehr gestritten. Eine ganze Senatsregierung ist darüber gestürzt. Das Auto soll nicht beschnitten werden, fanden die Wähler*innen. Wie machen Sie da Verkehrspolitik?Ein guter Politiker löst die Probleme hier und jetzt. Verkehrspolitik hat Werkzeuge, um Dinge zu verändern. Das ist entscheidend. Das wissen aber auch Unternehmen und Menschen, die Steuergelder in Milliardenhöhe in ihre Richtung lenken wollen. Nennt sich Political Engineering. Die Strategie habe ich zum ersten Mal von einem BMW-Mann gehört. Man versucht die Feigheit der Politik zu nutzen, man torpediert ihre Fähigkeit, brauchbare Lösungen für das Interesse der Bürger zu entwickeln. Man bietet ihnen leichte Lösungen an, die aber ins Nichts führen.In Berlin soll eine Magnetschwebebahn getestet werden …Gutes Beispiel! Scheinlösungen, die Dinge verschlechtern oder Entwicklungen versperren, weil Geld für Dinge ausgegeben wird, die nichts bringen. Aber es gibt inzwischen auch Beispiele, die anzeigen, wie man Dinge anders machen kann. In Wien hat man den Stadtautobahnbau gestoppt, deshalb kam die Stadt in den Genuss des Weltkulturerbes. Kopenhagen hat seinen Verkehr auf das Fahrrad umgestellt. In Seoul hat man eine gebaute Stadtautobahn abgerissen, den Fluss darunter begrünt. Einer meiner Absolventen steckt dahinter, in kurzer Zeit das Zentrum Ljubljanas von Autos zu befreien. Die Bewohner atmen auf.Sie nutzen in Ihrem Buch auch den eigentlich rechtspopulistischen Begriff des tiefen Staates. Was meinen Sie damit?In Österreich kann man das relativ gut festmachen. Es ist ein Gemisch von Baukonzernen, Industriellenvereinigungen und Banken. Die sind gut vernetzt mit der Politik, da hängt viel von privaten Beziehungen ab. Die Konzerne suchen sich Politiker in allen Parteien, die dann Gesetzesveränderungen in ihrem Sinn einbringen. Wenn Sie das einmal beleuchten, schwächen Sie so ein System. Der Rest im Parlament hat vielleicht wenig Ahnung, was da wirklich passiert, die Wähler bekämen das sonst sowieso nicht mit.Was kann Verkehrspolitik im Sinne einer Dekarbonisierung tun?Viel. Sie kann funktionierende Wege aufzeigen. Heute scheint mir vieles möglich, was vor ein paar Jahrzehnten noch undenkbar schien. Ich habe das Gefühl, dass immer mehr Menschen feststellen, dass wir nicht so weitermachen, unsere Umwelt nicht immer mehr umbauen können, sodass sie immer weiter aus der Balance gerät. Das schlechte Gewissen regt sich schon sehr häufig.
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