Was wäre denn, wenn der Staat morgen aufhören würde zu existieren? Das ist jetzt nicht die Frage, die sich Quinn Slobodian in einem Kreuzberger Veranstaltungsraum (früher ein Sozialbau) stellt. Sondern die Frage, sagt Quinn Slobodian, die sich Anarcho-Kapitalisten stellten. Weil sie einen Blick darauf öffnet, was bliebe, was wichtig wäre. Und was sich als unwichtiger Ballast abwerfen lassen könnte.
Slobodian ist Historiker, in seiner Untersuchung Globalisten (Suhrkamp 2018) hat er sich durch die ideengeschichtliche Basis internationaler Freihandelsverbünde gearbeitet. Und festgehalten, dass die Globalisten – Wilhelm Röpke, Friedrich August von Hayek oder Ludwig von Mises – darauf drängten, dass nach dem Ende der Imperien des 19.
r Imperien des 19. Jahrhunderts politische Rahmenbedingungen für die warenproduzierende Wirtschaft den gewählten nationalen Regierungen entzogen würden. Vor allem wollten sie Verstaatlichungen, Arbeitsmarktregulierungen oder Zollschranken durch Regierungen gleich welcher Couleur verhindern. Suprastaatliche Behältnisse sollten Märkte durch Internationalisierung stabilisieren, dafür Mitbestimmung und soziale Interessen zurückdrängen und „den Kapitalismus gegen die von der Demokratie ausgehende Bedrohung isolieren“.Jetzt ist Slobodian in Kreuzberg, um das Thema Kapitalismus ohne Demokratie in die entgegengesetzte Richtung zu diskutieren – sein neues Buch heißt auf Deutsch exakt so und trägt den Untertitel Wie Marktradikale die Welt in Mikronationen, Privatstädte und Steueroasen zerlegen wollen. Damit rückt er ans Ende des vergangenen Jahrhunderts, also in die 1990er-Jahre, und den Blick zunächst weiter nach Osten. Unterhalb der Nationalstaaten nämlich hat die Lehre von der Verteidigung des Kapitalismus gegen Regulation und soziale Interessen ganz andere Spielfelder gefunden: Enklaven, deren Bewohner*innen Vertragsverhältnisse eingehen, ihre Sicherheit oder Gesundheit Unternehmen überlassen. Und oft sehr eingeschränkt politische Mitsprache haben. Feuchte Träume der Anarcho-Kapitalisten also.Um die genauer zu besehen, streift Slobodian durch die demokratietheoretisch bestürzende Verfassung Hongkongs (wo Wirtschaftsunternehmen mehr Wählerstimmen als Bewohner*innen haben), das deregulierte Singapur („eine Kombination von Offshore-Steuerparadies und Sweatshop“), ihre autoritär verwalteten Kopien im chinesischen Shenzhen, die Docklands oder die neufeudalistischen Kostümspiele in Gated Communities Nordkaliforniens.Quinn Slobodian beschreibt den „Zersplitterungskapitalismus“All das sind einerseits Orte, mit Zäunen und Mauern bewehrt. Andererseits aber auch Modelle, die Grenzen hinter sich lassen. Slobodian weist nach, dass die Libertären (Anarcho-Kapitalismus ist eine Spielart), die einen seltsam verformten Freiheitsbegriff mobilisieren, oft eine nur eingeschränkte Analyse betreiben: Die Idee, dass man lediglich weniger Staat, möglichst keine Regulation (grade verschwindet dieser Begriff unter dem Schirm der abschreckenden „Bürokratie“) brauche, ist ein Missverständnis. Oder einfach Ideologie, die sich für die Kompositionen von und die Zustände in Freihäfen oder Steuerparadiesen kaum interessiert.Argentiniens neuer Präsident Javier Milei scheint vor allem aus Zorn und Zerstörungswut zu bestehen. In Großbritannien bemühten während der Brexit-Debatte konservative Rädelsführer gerne den Gedanken, sich fürderhin wie Singapur aufstellen zu dürfen, durchschauten das Modell aber nicht. Slobodian findet hier keineswegs die libertäre Utopie einer von staatlichen Interventionen befreite Zone, sondern staatliche Interventionen, die den Sockel für deregulierten Kapitalismus organisieren. Und so destilliert Quinn Slobodian die Dynamiken eines „Zersplitterungskapitalismus“, der Nationalstaaten, Regelungen und Rechtsräume von unten durchbohrt oder torpediert.Auch wenn die Diskussion über Singapur als Vorbild in Deutschland in überschaubaren Kreisen geführt wird, liest Slobodian sie als Debatte über die Zukunft – all das sei auch „ein Anschauungsbeispiel für die hartnäckigen Widersprüche des Kapitalismus: endloses Wachstum unter Missachtung ökologischer Grenzen, sozialer Sicherheit für einen Teil der Bevölkerung auf Kosten einer wachsenden Zahl von Marginalisierten sowie schwindende Zustimmung der Regierten aufgrund der zunehmend ungleichmäßigen Verteilung der Erträge“.Quinn Slobodian in Berlin-KreuzbergUnd damit sitzt Quinn Slobodian zu einem interessanten Zeitpunkt mit seinen Thesen in Kreuzberg: Unterhalb der Schwelle der Enklave nämlich beobachtet er auch so etwas wie die „sanfte Sezession“ – die Abkehr vom Staat mittels Privatschule, Gated Community, Kryptowährung und Steuerparadies. In Deutschland werden bis 2027 jährlich etwa 400 Milliarden Euro vererbt oder verschenkt. In oberen Segmenten zumeist steuerfrei. Abkehr vom Gemeinwesen wird auch hier Alltag.Ein paar U-Bahn-Stopps entfernt verweigert sich außerdem die Oppositionspartei in der Regierung, also die FDP, einem geltenden Klimaschutzgesetz und fordert harte Budgetkürzungen im Sozialetat. Sozialdemokraten schauen beleidigt, weil ihr offensichtlich einziges politisches Projekt für die Legislatur, das Bürgergeld, viel Häme und wenig Beifall bekommt. Die Grünen lassen klimapolitische Erkenntnisse fahren, stehen sozialpolitisch eher unbekleidet da und träumen vom „grünen Kapitalismus“. Die größte Oppositionspartei werkelt gerne mit Falschinformationen: Die Unions-Perspektive auf die Klimakatastrophe (Atomreaktoren + keine Eile bei der Umweltpolitik) ist durch nichts anderes gedeckt, als dass Wähler*innen das vielleicht gerne glauben möchten. Keine der entscheidenden politischen Kräfte verfolgt ernsthafte Regulationspolitik.Vor diesem Hintergrund klingen die neofeudalen Zonen, die Quinn Slobodian untersucht, eher wie eine finstere Perspektive als vom blauen Dunst der Ferne umweht.