„C’est de la merde“

Frankreich Die Wut auf die Pflicht zum Corona-Pass mobilisiert viele, die mit der Politik schon lange nichts mehr zu tun haben wollten
Ausgabe 33/2021

Orange, Rot, Schwarz. Das sind Frankreichs inoffizielle Nationalfarben an den Juli- und Augustwochenenden. Es ist die Klassifizierung für die endlosen Blechlawinen, die sich vollbepackt an die Küsten des Hexagons schieben. Am schlimmsten sind die „samedis noirs“, die schwarzen An- und Abreisesamstage mit über 1.000 Kilometern Stau im ganzen Land. Nervig, aber irgendwie Teil eines liebgewonnenen, alljährlichen Rituals: Wer es sich leisten kann, fällt mit dem Rest der Nation in kollektiven Sommerschlaf, bevölkert Hotels, Campingplätze, Ferienhäuser, Bistros und Strände, bis dann Anfang September das Leben wie auf Knopfdruck wieder an Fahrt aufnimmt. Und in diesem zweiten Coronasommer haben sich gleich 85 Prozent der Franzosen für Urlaub im eigenen Land entschieden. So sind die Samstage auf den Autobahnen noch schwärzer als sonst.

Wer dem Superstau entkommen will, kann sich für die kleinen Departement- und Nationalstraßen entscheiden, auf denen man gefühlt mindestens die Hälfte der 40.000 existierenden Kreisverkehre des Landes passiert, die ja spätestens seit den Gelbwesten zu einem politischen Ort avanciert sind. Überhaupt, Politik! Ob man will oder nicht, in diesem Sommer lässt sie sich einfach nicht abschütteln, ist ein treuer Reisebegleiter, genauso wie die lässig am Oberarm hängende OP-Maske und nun auch der Gesundheitspass. Denn kurz vor der großen Reisewelle hatte Macron den Fahrplan für die weiteren Coronamaßnahmen verkündet. Um in Zukunft am Gros des öffentlichen Lebens teilzunehmen, braucht’s den „pass sanitaire“. Schneller als in Deutschland heißt das: Zutritt nur geimpft, getestet oder genesen. Da eilten angesichts der nahenden Ferien noch viele Hunderttausende zu einem Impftermin.

Das alles vergisst man für einen Augenblick, während der Fahrt auf der ehemaligen Nationalstraße 7. Hier verblassen auf Häuserwänden die legendären Gitanes ohne Filter als Werbeaufschrift aus den 1950ern und die brachliegenden Tankstellen der N7 werden mit Sepia-Filter zu herrlich nostalgischen Instagram-Posts. Die N7 ist Frankreichs Version der Route 66 von Paris an die Côte-d’Azur. Heute lockt vor allem der Charme des Verfalls an den Straßenrändern. Den Verfall der Nation beschwor ja vor nicht allzu langer Zeit eine Gruppe von Ex-Generälen in einem offenen Brief, der nicht nach einem Witz, sondern wie ein echter Aufruf zum Putsch klang (der Freitag 19/2021). Im Kopf hallt es: Etwas ist faul im Staate Däne... Ach nee, jetzt bitte erstmal Urlaub. Voyage, voyage läuft im Autoradio.

Die Rückkehr der Gelbwesten

Wo man an der N7 noch einen Espresso finden und den Gesprächen der Ortsansässigen lauschen kann, wird man schnell auf DIE Melodie dieses Sommers eingestimmt: Le pass, c’est de la merde! Scheiße finden ihn die Leute, den QR-Code auf dem Handy oder auf Papier, der nun schnell unverzichtbar werden wird. Verzichtet wird hingegen überwiegend auf das Tragen von Masken, umso weiter man in den Süden reist. Wer sie aufsetzt, fällt in die Kategorie „les parigots“, Pariser! Dabei heißt die französische Corona-Warn-App ja „TousAntiCovid“ (Alle gegen Covid). Aber so ein richtiger Gruppengeist will im Kampf gegen das Virus nicht mehr aufkommen.

Wie weit weg die Pandemie hier ist, sieht man am bärig-grummeligen Campingplatzbesitzer Alain. Ihm entgeht keine verbotene Badeschlappe im Pool-Innenbereich, aber nach dem Gesundheitspass will er seine Gäste nicht fragen. Das sei bloße Schikane aus Paris, glaubt er. Tatsächlich fühlt sich Covid Ende Juli im Schatten der großen Platane mit Blick auf das Bergpanaroma des Luberon wie ein schlechter Traum aus der Vergangenheit an. Dabei verzeichnet Frankreich jeden Tag wieder mehrere Tausend positive Fälle und im Südwesten gilt erneut die Maskenpflicht im Freien. Die Inzidenz bewegt sich beharrlich über 200. Doch die Franzosen sind nicht nur pandemiemüde, sondern wollen mancherorts schlicht nichts mehr von der Politik aus Paris wissen und sehen im Pass nur einen weiteren Beleg dafür, wie brachial die Pariser Eliten – mit Macron an der Spitze – ihre (Corona-) Politik durchpeitschen, auf Kosten jener Freiheit, die immerhin als Grundwert neben Gleichheit und Brüderlichkeit auf jedem öffentlichen Gebäude der Republik eingeschrieben steht, selbst in jedem noch so winzigen Dorf, wo der Rückstand zu den urbanen Regionen, allen Versuchen der Dezentralisierung zum Trotz, immer größer wird.

Als Ende 2018 die Gelbwestenbewegung an Fahrt aufnahm, rückte dann diese lange unsichtbare Bevölkerungsschicht in den Fokus, die sich von Frankreichs Eliten verlassen und verraten fühlt. Was mit der geplanten Benzinpreiserhöhung begann, wuchs sich schnell zu einer der größten Protestbewegungen der jüngeren Geschichte aus, die besonders durch ihren spontanen und radikalen Charakter auffiel. Die Staatsmacht antwortete mit harter Hand, mit Polizeigewalt und restriktiven Gesetzen, so dass Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International sich alarmiert zeigten. Marine Le Pen rechts außen und Jean-Luc Mélenchon links außen feierten die Bewegung als lange überfälligen Aufstand der weißen unteren Mittelschicht, die gegen eine Politik für die Superreichen aufbegehrt und mit Macrons ausgerufener Start-up-Nation nichts anzufangen weiß. Wo auch die letzte Zug- und Busverbindung eingestellt wurde, wo die Menschen immer längere Strecken zurücklegen müssen, um Zugang zu medizinischer Versorgung zu bekommen und wo junge Leute lieber heute als morgen abwandern, dort wird aus dem Misstrauen gegenüber der politischen Klasse Ablehnung und Hass.

Schwarze Samstage

Zu Beginn der Coronakrise nahmen die meisten Franzosen verunsichert die zweimonatige Ausgangssperre noch hin. Im letzten Sommer hofften sie insgeheim, der Spuk sei vorbei, doch die zweite und dritte Welle traf das Land hart. Es erkrankten doppelt so viele Menschen am Virus wie in Deutschland und die jahrelangen Einsparungen im Gesundheitssystem rächten sich. Doch während sich in anderen europäischen Ländern Regierungschefs für Verfehlungen im Krisenmanagement entschuldigten, während sie versuchten, ihre Bevölkerung auf dem Weg durch die Pandemie mitzunehmen, zu motivieren, zu einen, legte Macron einmal mehr den so typisch französischen, auf Charles de Gaulle zurückgehenden, paternalistisch-bevormundenden Führungsstil an den Tag. So wundert es nicht, dass im Sommer 2021 der „Pass Schande“, wie sie ihn nennen, ausreicht, um den nie erloschenen Widerstandsgeist wieder zu schüren bei jenen, die sich sowieso schon durch ihr geringes finanzielles und kulturelles Kapital und ihre geografische Lage abgehängt und eingeschränkt fühlen.

So treibt es trotz des kollektiven Sommerschlafs mittlerweile zum fünften Mal Zehntausende Menschen an den Samstagen auf die Straße. Nicht alle sind Impfgegner, aber „gegen den Pass, für die Freiheit, für die Wahrheit“. So steht es zumindest auf dem Plakat von Sylvie und Thierry, Anfang 50, die zum ersten Mal in ihrem Leben überhaupt an einer Demonstration teilnehmen. Gewählt haben sie seit Jahren nicht mehr, den Glauben an die Gestaltungskraft von Politik haben sie gänzlich verloren. Aber auch wenn sie sich politisch nicht vereinnahmen lassen wollen, könnten Menschen wie sie leichte Beute für Heilsverkünder wie Rechtsextreme und Verschwörungstheoretiker werden, deren Antworten auf den Unmut leichter verständlich und verständnisvoller klingen. So könnten die schwarzen Samstage bald eine ganz neue Bedeutung bekommen, wenn neben den Blechlawinen die Protestwelle weiter über das Land rollt.

Aber mehr noch: Der Gesundheitspass und die samedis noirs könnten zu einer echten Gefahr für die Demokratie werden und der als arrogant, rabiat und volksfern empfundene jüngste Präsident der Fünften Republik hat nur noch wenig Zeit, um die tiefen Brüche in der französischen Gesellschaft ansatzweise zu kitten. Denn schmunzelnd, genüsslich abwartend, die Proteste befeuernd und den Gesundheitspass verteufelnd wartet am Rand schon die größte Heilsverkünderin der Nation, die im kommenden Mai gerne die neue französische Präsidentin werden würde.

Romy Strassenburg lebt als freie Journalistin in Paris. 2019 erschien bei Ullstein ihr Buch Adieu liberté – Wie mein Frankreich verschwand

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Geschrieben von

Romy Straßenburg

Lebt als freie Journalistin in Paris. Ihr Buch "Adieu Liberté - Wie mein Frankreich verschwand" ist im Ullstein-Verlag erschienen.

Romy Straßenburg

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