Am Lügentropf

Frankreich Nach den 1. Mai-Protesten debattiert Frankreich über vermeintliche Randale in einem Pariser Krankenhaus. Dabei kamen die falschen Informationen von oberster Stelle

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Die Polizei setzte mitunter Gummigeschosse ein
Die Polizei setzte mitunter Gummigeschosse ein

Foto: Zakaria Abdelfaki/AFP/Getty Images

Es gibt so Tage, die einfach nicht enden wollen. Oder nur auf dem Kalenderblatt. In der öffentlichen Debatte in Frankreich ist noch immer der 1. Mai. Ununterbrochen tauchen in den (sozialen) Medien neue Tweets, Kommentare, Videoaufnahmen und Fotos auf, die erklären sollen, wer nun die Schuld trägt an den teilweise brutalen Zusammenstößen zwischen Demonstranten und der Polizei, als am Mittwoch in Paris rund 40.000 Teilnehmer der traditionellen Mai-Demo auf den Straßen waren.

Dabei sticht eine Szene besonders hervor, an der sich nun die Gemüter erhitzen und die deshalb ganz präzise beschrieben werden muss: Als am Mittwoch Demonstranten am Boulevard de l'Hôpital und Boulevard Saint Marcel einen Ausweg aus dem Gedränge suchen und vor Tränengas flüchten, das die Polizei zu diesem Zeitpunkt einsetzt, zerstreuen sie sich in alle möglichen Richtungen. Während die meisten Zuflucht in Hauseingängen finden, drängen mehrere Dutzend Menschen gegen ein Gittertor, das eine Seiteneinfahrt zum Krankenhaus La Pitié-Sapétrière versperrt. Unter dem Gewicht gibt das Tor schließlich nach. Allerdings rücken nun von hinten und von der gegenüberliegenden Seite des Geländes Polizisten an. Daraufhin – so belegen es eindeutig Videos des Krankenhauspersonals – drängt eine Menschentraube auf die Außentreppe eines Gebäudes hinauf, in dem sich eine Intensivstation befindet.

Zu sehen sind wenige Demonstranten mit gelben Westen, überwiegend tragen die Menschen Alltagskleidung, jedoch sind keine so genannten Black-Block-Anhänger auf den Bildern auszumachen. Das Krankenhauspersonal verschließt in einem durchaus hektischen Moment die Tür und kann den Menschen davor schnell vermitteln, dass es keine Zuflucht gewähren kann, da es sich um eine Intensivstation handelt. Nach einigen Minuten und sichtbarer Verwirrung auf beiden Seiten, rückt schließlich die Polizei an und räumt die Treppe, was relativ geordnet von sich geht. So zeigen es die Bilder. So berichten es die Beteiligten.

Allerdings kursiert fast 48h lang – zumindest von Regierungsseite – eine ganz andere Wahrheit. Ausgelöst durch einen Tweet vom Innenminister Christophe Castaner, der von einem „Angriff“ auf das Krankenhaus und sein Personal spricht. Die Aufregung ist riesig. Prominente Stimmen aus Politik und Medien twittern und kommentieren sich die Finger wund, stets in der Annahme, dass die vom Innenminister verbreitete Information schon stimmen werden. Selbst in ausländischen Medien wird die Meldung fraglos übernommen: Ja, in Frankreich macht die randalierende Meute jetzt sogar nicht mehr vor Krankenhäusern halt. Mon dieu.

Eingebetteter Medieninhalt

Erst als renommierte Medien, u.a. Le Monde und Libération, ihre Fact-Checker auf den Fall angesetzt haben und die Kritik an dem voreiligen Urteil des Ministers immer lauter wurde – bis hin zu Rücktrittsforderung von Seiten der linken Opposition – kam das Mea Culpa des Innenministers, am Freitagmorgen in einer Pressekonferenz: „Ich hätte den Begriff „angreifen“ nicht verwenden sollen.“ Dabei geht es längst nicht mehr um die Wortwahl, sondern um die Deutungshoheit von Gewalt und Gegengewalt, um den Unterschied zwischen Randaliern und Demonstranten, Gelbwesten und Gewerkschaftern, zwischen Regierungskritikern und Staatsfeinden.

Aber wenn Vertreter der Regierung sich auf die erstbeste Gelegenheit stürzen, um die Demonstrierenden in Misskredit zu bringen, wenn sie dem Druck der Straße mit Fakenews begegnen, zeigt sich dann nicht vor allem eines: Die französische Demokratie befindet sich derzeit in einer äußersten Schieflage. Und in dieser aufgeheizten Stimmung sollte man ganz besonders achtsam auf die Wahrheit schauen. Noch ist der 1. Mai nicht zu Ende.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Romy Straßenburg

Lebt als freie Journalistin in Paris. Ihr Buch "Adieu Liberté - Wie mein Frankreich verschwand" ist im Ullstein-Verlag erschienen.

Romy Straßenburg

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