EU-weites Mobilitätsticket: Einmal Europa für 49 Euro, bitte!

Meinung Kennen Sie Interrail? Falls ja, tut uns das leid. Abhilfe könnten ausgerechnet Volker Wissing und Emmanuel Macron liefern. Und das alles zum Preis des Deutschland-Tickets
Nur noch 20 Stunden bis Paris
Nur noch 20 Stunden bis Paris

Foto: Imago/Mollenhauer

Die Vorstellung, in einen Zug zu steigen und später in einem anderen Land, am besten am Meer oder in einer unbekannten Metropole, wieder auszusteigen, ist seit dem frühen Interrail und der Reiselust der 68er-Jugend tief in den deutschen Köpfen verankert. 50 Jahre später bewahrheitet sich dieses Bild nur selten: Viele Strecken können nur über mehrere Anbieter gebucht werden, die Tickets sind oft teuer oder restlos ausverkauft. Das einfach Ein- und Aussteigen wird unmöglich. In solchen Situationen drängt sich die Vorstellung eines Europa-Tickets auf, ein Ticket für alle überallhin! Was es für Deutschland mit dem 49-Euro Ticket zumindest teilweise schon gibt, würde auch im europäischen Kontext funktionieren.

Nachdem Deutschland letztes Jahr ein allgemeines Ticket für den ÖPNV eingeführt hat, kommt die Idee auch in Frankreichs Regierung auf, zumindest laut Präsident Emmanuel Macron. Der will ein ähnliches Angebot für den ÖPNV in seinem Land einführen, erzählt er dem französischen YouTube-Journalisten und Internetstar HugoDecrypte während eines Interviews. Der politische Wille für ein Frankreich-Tickt, den Pass Rail, ist gegeben. Verkehrsminister Clement Beaune hatte schon im Juli eine solchen speziell für Jugendliche im Interview mit dem Fernsehsender France 2 angekündigt. Nach Macrons Auftritt, bekräftigt Beaune das Vorhaben: Etwa 49 Euro soll der Pass Raile kosten und im Sommer 2024 eingeführt werden. Bundesverkehrsminister Volker Wissing (FDP) reagiert schnell und denkt öffentlichkeitswirksam über eine gegenseitige Anerkennung der beiden Tickets nach. Er geht sogar noch weiter und stellt den Gedanken eines europaweiten Tickets in den Raum. Mit dem (Regional-)Zug von Leipzig nach Marseille? Oder von Frankfurt nach Bordeaux?

Dass Interesse an einem solchen Ticket besteht, bewies schon der „deutsch-französische Freundschaftspass“, dessen Website bei 5,9 Millionen Seitenanfragen prompt abstürzte. Dieser wurde im Zuge des Jubiläums des Élysée-Vertrags im Juni 2023 an 60. 000 Jugendliche in Frankreich und Deutschland verschenkt. Aufgrund technischer Probleme und einer viel zu geringen Stückzahl wurde er schnell zum Internet-Meme und Zielscheibe zahlreicher enttäuschter Tweets. Trotzdem zeigte er die Nachfrage nach erschwinglichem, grenzübergreifendem Bahnverkehr – zumindest bei Jugendlichen. Auch das Konzept Interrail boomt und das trotz strenger Reservierungsbestimmungen und hoher Preise. So wurden 2022 rund 600.000 Tickets europaweit verkauft – eine Verdoppelung seit 2019.

Nur 20 Stunden bis Paris

Ein Blick außerhalb Deutschlands zeigt, dass sich etwas auf den Ticketmärkten bewegt und neue Konzepte eingeführt werden, die sich in ein Europa-Ticket integrieren ließen. Luxemburg und Malta stellen große Teile des ÖPNVs gratis zur Verfügung. In Österreich gibt es seit Herbst 2021 das Klima- oder 365-Euro-Ticket, welches seinen Nutzer*innen zusätzlich die Fahrt in Schnellzügen erlaubt. Vor allem bei einem Europa-Ticket liegt hier der Knackpunkt, denn aktuell dauert eine Fahrt von Berlin nach Paris im Regionalverkehr über 20 Stunden und beinhaltet entspannte zehn Umstiege. Wer in Spanien Urlaub machen will, verbringt etwa zwei Tage in Bussen und Regionalbahnen – für die meisten keine Alternative.

Auf der anderen Seite zwingt der ÖPNV einen dazu, auch mal abseits der großen Städte und Interrail-Hotspots wie Amsterdam, Paris oder Barcelona unterwegs zu sein. Wie wäre Urlaub in Kufstein, Orleans oder Aarhus? Vor allem für Herumreisende böte sich die Möglichkeit, den Kontinent und seine weniger bekannten Ecken kostengünstig zu entdecken. Eine solches Unterfangen wäre auch die perfekte Gelegenheit, den großen Stapel herumliegender Bücher zu lesen oder, im Jargon der Wellness-Bewegung, zu „entschleunigen“.

Alles eine Frage des Geldes

Was aktuell noch nach Zukunftsmusik klingt, könnte mit dem nötigen politischen Willen umgesetzt werden. Eine gewisse Offenheit dafür scheint bei Wissing und der französischen Regierung zumindest vorhanden zu sein. Am Ende wird es aber auch eine Frage des Geldes sein. Wie werden die Einnahmen aus den Ticketverkäufen zwischen den Bahnbetreibern verteilt? Wenn man sich in Deutschland das Europa-Ticket kauft und in Frankreich damit fährt, wie viel bekommt dann jede genutzte Bahngesellschaft?

Ein weiterer Streitpunkt, der sich um das 49-Euro-Ticket schon in Deutschland abgezeichnet hat, ist die Frage der Finanzierung, also wie viel durch den Bund und welche Summe durch die Länder aufgebracht werden muss. Über den Sommer kam es regelmäßig zu medialen Streitereien zwischen den Ländern und Wissing über die Verteilung von Mehrkosten. Das Gespenst des Endes des Deutschland-Tickets ging durch die Medien. Auf europäischer Ebene würde eine solche Debatte noch weitaus emotionaler geführt werden, jedoch gäbe es auch zusätzliche Finanzierungsoptionen durch die EU. Eine faire Finanzierung stünde in Relation zu der wirtschaftlichen Stärke der Mitgliedsstaaten. Neben politischen Willensbekundungen, braucht es also eine klare Zahlungsbereitschaft von Seiten der Verantwortlichen, auch von Wissing und der FDP.

Als weiteren Punkt drängt sich auf, was das Europa-Ticket in den verschiedenen EU-Staaten kosten soll? Ein einheitlicher Preis von 49 Euro belastet Haushalteinkommen in Deutschland schwächer als in Bulgarien oder Griechenland und zeigt, wie stark die Einkommensschere in Europa auseinanderklafft. Es wäre zutiefst ungerecht, und nicht im Sinne der Idee, wenn Konsument*innen in Bulgarien den gleichen Preis wie in Schweden bezahlen müssten.

Ob es jemals zu einem Europa-Ticket kommen wird, ist ungewiss. Die Nachfrage danach besteht zumindest und aktuell laden Meldungen deutscher und französischer Politiker zum Nachdenken darüber ein. Im besten Fall würde es europäischen Personenverkehr immer weiter auf die Schiene verlagern und damit zur viel beschworenen, oft vergessenen europäischen Solidarität beitragen. Aktuell bleibt die Idee des Europa-Tickets jedoch noch eine Träumerei für lange Bahnfahrten.

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