Man hört also wieder von ihm, von Bartleby, dem Schreiber. Als Vorbild der Arbeitsaufständischen wird die Figur aus Herman Melvilles 1853 veröffentlichter Erzählung gerne für Feuilleton-Debatten über die Arbeitswelt herangezogen; seine Anti-Normalitäts-Einstellung passt ja auch gut zum Geist der Zeit. „Es ist, als wären wir alle zu Bartleby geworden“, schrieb eine CNN-Autorin schon vergangenen Sommer: Millionen von Menschen hatten in den USA in der Pandemie ihre Jobs gekündigt, so viele wie lange nicht zuvor. Viele Expert*innen zeigten sich begeistert: „Die Great Resignation könnte der Beginn einer bedeutsamen Veränderung der Arbeitsbedingungen in diesem Land sein“, schrieb etwa die Historikerin Abigail Susik in
Quiet Quitting: Helden der Arbeitsverweigerung müssen sich organisieren
Arbeitskampf Die Einstellung zur Arbeit ändert sich. Viele machen im Job nur noch das Nötigste. Doch neue Macht bekommen Arbeiter*innen erst dann, wenn sie kollektiv streiken – wie bei Apple, Amazon und Starbucks

Eine Art Super-Bartleby: Chris Smalls organisierte die erste Amazon-Gewerkschaft der USA.
Foto: Nina Berman/Redux/laif
in der New York Times. Von einer „wunderbaren Entwicklung“ schwärmte der Journalist Timothy Noah. Manche Linke sahen sogar die Vorboten eines lang ersehnten Generalstreiks.Auch jetzt, knapp ein Jahr später, wird wieder über die vielen neuen Bartlebys diskutiert: Aber statt hinzuschmeißen, würden sich nun immer mehr Menschen dafür entscheiden, nur noch das Nötigste auf der Arbeit zu tun. „Quiet Quitting“ (stille Kündigung) nennt sich das (früher sprach man vielleicht vom „Bummelstreik“). Der Arbeitskräftemangel, mehr als eine Million offene Stellen gibt es etwa in Deutschland, könnte die Hoffnung stärken: Entwickelt sich mit dem neuen Selbstbewusstsein der Arbeitenden auch eine neue Arbeitsmacht gegenüber den Unternehmen?Es lohnt ein Blick zurück in die USA, denn dort scheint der Glaube an das transformative Potenzial der Great Resignation bereits wieder verflogen. Während die Gehaltszuwächse, die in einigen Branchen erreicht wurden, von der Inflation weitestgehend kassiert wurden, häufen sich die Berichte von „Boomerang-Angestellten“, die inzwischen wieder zurück beim alten Arbeitgeber gelandet sind, und von Menschen, die es ganz bereuen, ihren Job aufgegeben zu haben. Wieso ist die Great Resignation aus linker Sicht verpufft? Vermutlich aus dem gleichen Grund, aus dem Bartleby mit seiner Ich-Verweigerung keinen Aufstand angezettelt hat. Das Problem ist die Vereinzelung.Auf den ersten Blick mag der Anwaltsgehilfe, der an der Wall Street ein Dokument nach dem anderen abschreiben soll, ein guter anti-kapitalistischer Held sein. Er entzieht sich der Autorität seines Chefs, durchbricht die öde Routine seines Jobs und entblößt ihn als das, was er ist: nämlich Bullshit. Endlich macht mal einer was gegen die marktkonforme Abstumpfung, also: nichts. Auch Bartlebys berühmtester Satz, „I would prefer not to“ (Ich möchte lieber nicht), ist in seiner entschlossenen Ambivalenz sofort sympathisch. Wir alle sollten Bartlebys „magischer, passiver Revolution“ folgen, hat der Philosoph Slavoj Žižek mal geschrieben.Der heiße Sommer des StreiksAber man muss die Geschichte gar nicht von hinten denken – Bartleby verelendet schließlich im Knast –, um zu erkennen, dass sein Nicht-Tun vielleicht doch nicht zur Nachahmung geeignet ist. Sein Widerstand funktioniert kaum als Wegweiser zur Systemveränderung, weil er individuell und forderungsfrei geschieht. Magisch sind Revolutionen oft, passiv aber, sorry Žižek, eben nie. Halten wir Bartleby also in Ehren, indem wir ihn in Ruhe lassen.Was muss passieren, damit Arbeitnehmer*innen ihre Interessen durchsetzen können? Welche Taktiken braucht es, welche Werkzeuge, auch welche Leute, gar: Leader? Kurz: Wie funktioniert erfolgreicher Klassenkampf? In den USA haben sich in den vergangenen Jahren ein paar Dinge getan, aus denen sich aktuelle Antworten auf diese ewig-dringende Frage ableiten lassen. Deutlich wurde, dass es einen großen Unterschied macht, ob eine diffuse Masse von Menschen zur gleichen Zeit irgendwie ähnlich handelt (Great Resignation) oder ob sich Massen von Menschen zum Handeln aktiv zusammenschließen – wie bei den vielen Arbeitskämpfen dieser Zeit. Aufgetan hat sich so etwas wie eine neue Gewerkschaftsarbeit; experimentell und durchdacht, anti-technokratisch und multimedial, konfrontationsfreudig und deshalb effektiv.Damit Proteste nachhaltig wirken, brauchen sie Druckmittel. Und die entstehen allermeist dadurch, dass man sich im Kollektiv organisiert. So nachvollziehbar das Auflehnen, Entziehen, Resignieren, so wenig baut sich dadurch wirkliche Macht für die Mehrheit der Lohnabhängigen auf. Ähnlich verhält es sich, wenn Leute einer Wahl fernbleiben, um der Politik „eine Lehre zu erteilen“. Individualisiertes Nicht-Wählen streichelt höchstens die Statistik, jucken tut es leider kaum. Chris Smalls, Präsident der ersten Amazon-Gewerkschaft, formulierte es neulich so: „Wenn du deinen Job kündigst, rate mal, was passiert? Sie stellen jemanden anderen ein. Man springt also von einem Feuer ins nächste und das System wird dadurch nicht besser.“Bei Smalls ist man gerade richtig, wenn es um Versuche der Systemveränderung geht – er ist das Gesicht einer jungen Arbeiter*innenbewegung, die mit jeder Woche wächst. Dabei ist Smalls’ Geschichte gleichermaßen speziell wie repräsentativ: Ein junger Schwarzer Vater aus New Jersey, der bei Amazon Schichten schob, stellte irgendwann fest, dass sein Fleiß nicht belohnt und seine Courage sogar bestraft wird. Als Smalls zu Beginn der Pandemie gegen die Arbeitsbedingungen in einem Warenlager in Staten Island protestierte, wurde er gefeuert. Er brachte daraufhin andere Beschäftigte zusammen, so wurde die längst legendäre Amazon Labor Union geboren. Im April stimmte die Mehrheit der Beschäftigten des Standortes für eine Gewerkschaft – die erste überhaupt in der Geschichte des Unternehmens.Seit der historischen Abstimmung ist einiges passiert. Aktivist*innen aus der ganzen Welt stehen im Kontakt mit der Amazon Labor Union, lassen sich Ratschläge für die Organisierung geben. Während die ALU selbst in einem anderen Warenlager in Staten Island eine Niederlage hinnehmen musste, schlossen sich 400 Amazon-Beschäftigte im Norden von New York der Graswurzel-Gewerkschaft an. Noch wichtiger ist aber, dass der spektakuläre Vorstoß der ALU auch in ganz anderen Branchen Arbeiter*innen inspiriert. Unter #HotLaborSummer kann man bei Twitter verfolgen, wo gestreikt wird, wo neue Gewerkschaften entstehen und alte sich erneuern. Seit Juni gibt es in Maryland den ersten Apple-Store in den USA mit gewerkschaftlicher Vertretung. Einen Monat später wurde dieser Schritt beim Lebensmittelhändler Trader Joe’s vollzogen. Besonders beeindruckend ist das Tempo der Mobilisierung bei der Kaffeekette Starbucks, wo im Dezember 2021 der Bann gebrochen wurde, als eine Filiale in Buffalo (New York) die erste Gründung einer Gewerkschaft beschloss. Rund 230 Standorte sind seitdem hinzugekommen. Mehr als zwei Drittel aller Amerikaner*innen sind mittlerweile pro Gewerkschaften. So hoch war die Zustimmung zuletzt in den 60er Jahren.Wie erklärt sich die neue Energie? Einerseits sind es die düsteren Zustände, gegen die sich die Leute wehren: mickrige Gehälter, brutale Schichten, fehlender Respekt, spürbare Gewerkschaftsfeindlichkeit. Die wachsende Prekarität, katalysiert und kristallisiert durch die Pandemie, hat den Arbeitsmarkt zugespitzt. Die Great Resignation hilft insofern, da sich viele Arbeitgeber mehr anstrengen müssen, um die Stellen neu zu besetzen, was die Forderungen der Arbeitnehmer wiederum wirksamer machen lässt. Ein angespannter Arbeitsmarkt alleine macht jedoch keine Revolution. Bedeutsamer scheint, dass Chris Smalls nicht alleine ist: Man kann von einer ganzen Generation von Organizer*innen sprechen.Allein machen sie dich ein„Einer der Hauptgründe für den derzeitigen Aufschwung in der gewerkschaftlichen Organisierung ist, dass sie von jungen Arbeiter*innen vorangetrieben wird, die bereit sind, Risiken einzugehen“, sagt der Arbeitsforscher Eric Blanc, der seit Jahren soziale Bewegungen beobachtet. Zum Tragen komme, dass sich viele Amerikaner*innen in den vergangenen Jahren radikalisiert hätten und ihren linken Aktivismus nun auch am Arbeitsplatz zum Ausdruck brächten. „Immer mehr Menschen erfahren, dass es eine Alternative dazu gibt, sich entweder den Launen des Chefs zu unterwerfen oder zu kündigen“, so Blanc, „und diese Alternative lautet kollektive Organisierung“.Die erfolgreichen Kampagnen bei Amazon und Starbucks hätten gezeigt, sagt Blanc, dass Gewerkschaften von den Beschäftigten selbst angeführt werden müssen, nicht von außenstehenden Funktionären. Dank Social Media verbreiteten sich Graswurzelproteste und ihre Taktiken außerdem schneller als früher, Blanc spricht von einer Kettenreaktion, doch er warnt auch: „Eine Gewerkschaft zu gründen ist nur der erste Schritt und nicht mal der schwierigste. Das Schwierigste ist es, einen Vertrag zu erkämpfen.“ An dieser Stelle könnte es entscheidend werden, ob auch die etablierten Gewerkschaften, die über wesentlich mehr Ressourcen verfügen, in die Offensive gehen. Hoffnungen werden dabei in Sean O’Brien gesetzt, den neuen Präsidenten der Teamsters-Gewerkschaft, die mit 1,3 Millionen Mitgliedern zu den größten des Landes gehört. Eben jener O’Brien stand zuletzt in verschiedenen Städten zusammen mit der ebenfalls mächtigen Gewerkschaftlerin Sara Nelson und Bernie Sanders auf der großen Bühne. „Die Arbeiter*innenklasse kämpft zurück“, hieß das Motto dieser Veranstaltungen. Linke Kräfte, das spürt man anhand solcher Aktionen, bauen gezielt Zusammenhalt auf. Viel ist davon nach Jahrzehnten der neoliberalen Verwüstung nicht übrig.Ein Schlüssel ist die Organisierung der Organisierenden, sagt Blanc. Gemeinsam mit anderen Aktivist*innen gründete er zu Beginn der Pandemie das Emergency Workplace Organizing Committee, ein Programm, über das Beschäftigte mit erfahrenen Organizer*innen zusammengebracht und trainiert werden. Tausende haben es schon absolviert, etliche Arbeitskämpfe wurden so gewonnen. Der linke Flügel der britischen Gewerkschaftsbewegung will das Modell nun übernehmen.Im Vergleich zu früheren Arbeiter*innenbewegungen ist die jetzige immer noch klein, sie steht am Anfang eines langwierigen Aufbaus. Im besten Fall. Alleine muss sich aber niemand mehr fühlen. Da wären wir wieder bei Bartleby, dem rätselhaften Aus-der-Welt-Steiger, der einfach nicht in Ruhe gelassen wird. Man stelle sich vor, Millionen von Menschen würden das machen, was Bartleby gemacht hat – aber nicht als Einzelgänger, sondern solidarisch geplant und mit konkreten Forderungen verknüpft. Das wäre ein Generalstreik.