Der eigentliche Souverän

Großbritannien Der Entscheid des High Courts zum Brexit-Verfahren ist dazu angetan, den Wahlbürger vom 23. Juni zum Hanswurst zu degradieren
Ausgabe 45/2016
Ein bisschen schizophren, die derzeitige Situation des britischen Parlaments
Ein bisschen schizophren, die derzeitige Situation des britischen Parlaments

Foto: Daniel Leal-Olivas/AFP/Getty Images

Welches Verhältnis zur Demokratie herrscht im britischen Parlament? Neuerdings ein schizophrenes? Zur Erinnerung: Als Premier David Cameron im Dezember 2015 ein Gesetz über ein EU-Referendum im Unterhaus einbrachte, gab es eine Mehrheit von 6 : 1 für den Volksentscheid. Viele Abgeordnete bei den Tories wie bei Labour dürften bei der Stimmabgabe unter dem Eindruck der vier Millionen Briten gestanden haben, die bei der Unterhauswahl vom Mai 2015 die nationalistische Ukip bevorzugten.

Wer davon schockiert war oder aus anderen Gründen Camerons Vorlage zustimmte, musste wissen: Nunmehr war die Entscheidung über Sein oder Nichtsein in der EU an die Wähler delegiert. Sie sollten als Souverän entscheiden. Und haben es am 23. Juni mit dem bekannten Ergebnis getan. Ob man das bedauert oder begrüßt – daran zu rütteln, wäre ein GAU für die Demokratie. Die Briten rief ein Gesetz an die Urnen, das die per Referendum zu beantwortende Frage enthielt: „Soll das Vereinigte Königreich ein Mitglied der Europäischen Union bleiben oder die Europäische Union verlassen?“ Es gab keinen Passus, wonach der dazu mehrheitlich erteilte Bescheid relativiert oder gar annulliert werden könne. Zum Beispiel, wenn dadurch Interessen der britischen Wirtschaft, des britischen Staates oder der britischen Parteien berührt sind.

Wer ist souveräner?

Wie kann es dann sein, dass plötzlich der Legislative das Recht eingeräumt werden soll, die EU-Austrittsverhandlungen zu blockieren? Und sei es aus nachvollziehbaren, ehrenwerten, taktischen, proeuropäischen, selbstsüchtigen oder wie auch immer gearteten Gründen. Wer bleibt da als Souverän? Das Volk oder das Parlament?

Die Richter des High Court in London haben sich am 3. November für das Parlament entschieden. Ihr Urteil lautet, die Abgeordneten dürfen über die Brexit-Pläne von Premierministerin May mit entscheiden. Und notfalls die Mehrheit vom 23. Juni übergehen? Natürlich kann es sein, dass als höchstrichterliche Instanz der Supreme Court, der sich innerhalb eines Monats erklären muss, die bewusste Auflage kassiert. Ungeachtet dessen zeigt der Vorgang, welche Konflikte die Gewaltenteilung zwischen Judikative, Legislative und Exekutive heraufbeschwören kann, sofern sie widerstreitenden Interessen gehorcht. Dann mag es geschehen, dass ein Parlament unterläuft, was es selbst beschlossen hat, und den am 23. Juni angerufenen Souverän zum Hanswurst erklärt. Wirkungsvoller lässt sich Demokratie kaum beschädigen. Was ist sie noch wert, wenn ihr Markenkern – am Ende entscheidet die Mehrheit – nichts mehr gilt?

Man könnte das als übertrieben pessimistischen Exkurs abtun, wäre nicht bekannt, dass eine einflussreiche Elite in Großbritannien den 23. Juni nicht akzeptiert und verhindern will, was daraus folgt. Allein in der Unterhausfraktion der Konservativen sitzen wie Ex-Schatzkanzler George Osborne Dissidenten zuhauf, die im Falle einer Abstimmung Theresa May nur allzu gern die Gefolgschaft verweigern. Der Tory-Vorsprung liegt nur bei 15 Mandaten, werden die nordirischen Unionisten in die Pflicht genommen, bei 25. Und Labour stellt Bedingungen. Die Versuchung könnte also groß sein, Mays Brexit-Tableau durchfallen zu lassen und so Neuwahlen im April oder Mai 2017 zu erzwingen. Der Einstieg in das Scheidungsverfahren mit der EU wäre um Monate hinausgeschoben. Wer das als gutes Signal für Europa deutet, kann nicht bei Trost sein.

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Geschrieben von

Lutz Herden

Redakteur „Politik“, zuständig für „Ausland“ und „Zeitgeschichte“

Lutz Herden studierte nach einem Volontariat beim Studio Halle bis Ende der 1970er Jahre Journalistik in Leipzig, war dann Redakteur und Auslandskorrespondent des Deutschen Fernsehfunks (DFF) in Berlin, moderierte das Nachrichtenjournal „AK zwo“ und wurde 1990/91 zum Hauptabteilungsleiter Nachrichten/Journale berufen. Nach Anstellungen beim damaligen ORB in Babelsberg und dem Sender Vox in Köln kam er Mitte 1994 als Auslandsredakteur zum Freitag. Dort arbeitete es von 1996 bis 2008 als Redaktionsleiter Politik, war dann bis 2010 Ressortleiter und danach als Redakteur für den Auslandsteil und die Zeitgeschichte verantwortlich.

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