Wie lässt sich dem Vorwurf der Demokratieferne in der EU am besten entkommen? Offenbar, indem man sich noch weiter von der Demokratie entfernt. Anders kann die Absicht fast aller EU-Staaten kaum gedeutet werden, für die Europawahl 2019 das Spitzenkandidat-Prinzip wieder abzuschaffen. Vor zwei Jahren gab es erstmals die exponierten Bewerber aus den großen europäischen Parteifamilien. Personen statt Programme, schien die Devise.
So drapierte sich die konservative Europäische Volkspartei (EVP) mit Luxemburgs Ex-Premier Jean-Claude-Juncker. Die Sozialdemokraten traten mit dem Deutschen Martin Schulz an. Die Europäische Linkspartei entschied sich für den Griechen Alexis Tsipras. Als Ende Mai 2014 die EVP wieder stärkste Formation wurde, blieb naturgemäß offen, inwieweit das ihrem Frontmann zu verdanken war. Doch ging von diesem Votum immerhin so viel Dynamik aus, dass die EU-Regierungschefs Junckers Wahl zum EU-Kommissionspräsidenten weder blockieren noch verzögern konnten. Zumal im EU-Parlament großkoalitionäres Einvernehmen zwischen Christ- und Sozialdemokraten die Paketlösung absegnete: Schulz führt das Parlament, Juncker die Kommission.
Dass Europawahlen künftig wieder ohne Spitzenkandidaten auszukommen haben, geht nicht auf die üblichen Verdächtigen zurück, sprich: regierende EU-Skeptiker in Warschau, Budapest, Bratislava oder anderswo. Das „Experiment“ kassieren wollen mutmaßlich 27 der 28 EU-Mitglieder. Über die Motive, das einmal Verkostete wieder aus dem Menüplan zu werfen, kann viel spekuliert werden. Über die Wirkung muss man sich im Klaren sein: Das vereinte Europa durchläuft eine Legitimationskrise. Und ist wild entschlossen, sich weiter zu demontieren? Schließlich waren Spitzenkandidaten aus einer Union der Parteien ein Schritt zur politischen Union der Europäer (die seit Ausbruch der Eurokrise angeblich so schmerzlich vermisst wird). Mit ihnen wurden der Europawahlkampf personalisiert und die EU-Kommission politisiert. Deren Chef kann sich seither nicht nur auf das Mandat des Europäischen Rates und EU-Parlaments, sondern ebenso auf einen direkten Wählerauftrag berufen.
Wer all das negiert, hat zu verantworten, dass der Abstand zwischen EU-Eliten und EU-Bürgern zum Abgrund wird. Wenn das nicht längst der Fall ist. Spitzenposten in der EU sollen eben nicht von Spitzenkandidaten besetzt werden, sondern von den Favoriten starker EU-Regierungschefs, die es für eine Art Naturrecht halten, sich Geltung zu verschaffen. Als 2009 erstmals EU-Führungspersonal gefragt war, das auf den Vertrag von Lissabon zurückging, wussten Angela Merkel und der französische Staatschef Nicolas Sarkozy genau, was sie wollten, um zu bekommen, wen sie wollten: einen schwachen EU-Ratspräsidenten Herman Van Rompuy und eine kraftlose EU-Chefdiplomatin Catherine Ashton. Ganz zu schweigen von Merkel-Protegé José Manuel Barroso, der zehn Jahre lang an der Spitze der EU-Kommission stand.
Als die Eurokrise Europa einen rasanten Demokratieverlust eintrug, weil Bankenhilfen, Rettungsfonds und Spardiktate als alternativlos durch die Parlamente getrieben wurden, schienen reformierte Europawahlen geeignet, dem Bürger wenigstens Reste an politischer Willensbildung zu gönnen. Dem Projekt Europa sollte nicht vollends die Basis verloren gehen. Alles andere verstümmelt die EU nur weiter – und macht sie vom Wesen her erkennbarer.
Kommentare 5
Von welchem Europa sprechen Sie eigentlich?
Die so genannte Europäische Gemeinschaft aus 28 Nationen ist das misslungene Produkt der europäischen Politiker, die den europäischen Einwohnern Mitte 2005 die Abstimmung über eine EU-Verfassung verweigert haben und denen Begehren nach Beteiligung im Rahmen von Referenden suspekt sind (siehe das jüngste Referendum in den Niederlanden).
Eine EU-Bürgerabstimmung über einen EU-Verfassungsvertrag ist nie erfolgt. Man brauchte die „unmündigen Bürgerinnen und Bürger“ dafür nicht, man schloss sie aus. Europa braucht nach ihrem Verständnis offenbar lediglich Regierungen, Eurokraten und Banken.
Es waren auch die Politiker, die die EU nach dem Mauerfall in Eile gen Osten erweiterten. Es konnte nicht schnell genug gehen. Ob die mental/kulturellen Voraussetzungen dafür vorlagen, interessierte niemand. Organische Fortentwicklung des Gebildes EU? Lieber nicht! Bis dahin könnte sich Russland ja erholt haben.
Die europäischen Politiker handelten nach der US-amerikanischen Devise „Wir können es, also tun wir es – und niemand wird uns daran hindern“.
Dabei waren die Bürger natürlich im Weg.
Aber die gesamte politische Prominenz einschließlich Papst glorifiziert die Europäische Union und agitiert die Bürgerinnen und Bürger mit dem Begriff „westliche Wertegemeinschaft“. Dabei ist die EU nichts anderes als eine Veranstaltung, die immer dann durchgeführt wird, wenn es darum geht, die Beutezüge der Finanzwirtschaft zu organisieren und darum, die Bürgerinnen und Bürger hierfür zu disziplinieren (Griechenland 2015 lässt grüßen), die aber insbesondere dann beispiellos versagt, wenn z. B. Kriegsflüchtlingen (die eine Reihe europäischer Staaten im Übrigen mitverursacht hat) eine humanitäre Perspektive eröffnet werden muss.
Dann verfällt die EU in Kakofonie und macht ihre ganze Menschenverachtung sichtbar. Ich darf in diesem Zusammenhang an den völkerrechtswidrigen Angriffskrieg der coalition of the willing von 2003 gegen den Irak erinnern. Darunter befanden sich folgende Mitgliedsstaaten der Europäischen Union: Bulgarien, Dänemark, Großbritannien, Italien, Lettland, Litauen, Niederlande, Polen, Portugal, Rumänien, Slowakei, Slowenien, Spanien, Tschechische Republik, Ungarn.
Soll ich mich als Bürger mit einer solchen EU identifizieren?
Die Historie und das Problem sind eingehend gut bechrieben. Danke!
Irgendwie ging mir die Europawahl 2014 Spitzenkandidaten Kür und Show "martin Schulz gegen Jean Claude Juncker" als heiße Umlaufluft im Bräter ziemlich auf den Senkel.
Im Nachherein sage ich, da war doch was?. Das Interesse nationaler Medien in Europa war tatsächlich auf die Europawahl 2014 wie nie zuvor gerichtet, auch wenn das Europaparlament immer noch, von Lobbyisten unterhöhlt, den Charme einer Wettbude mit Fritten Kiosk nebenan verbreitet.
Das, was der EU- Ministerrat seit 2010 mit der sogenannten Eurokrise, in deren Zentrum nachwievor Griechenland steht,
- warum eigentlich? wg. drohendem Ereignisfall von Risikoausfallversicherungspolicen gegen den Euro, auf den Bankrott eines Eurostaates von Goldman Sachs? -
2011 mit dem Syrienkrieg, danach versagtem Schutz, menschenwürdiger Versorgung von Millionen Flüchtlingen rings um den Kriegsschauplatz Syrien, im Libanon, Jordanien, Nordirak durch Unterlassungen versaubeutelt hat, wird die Europawahl 2019 nicht heilen können.
Weil aber der EU- Ministerrat im Wege der Europawahl 2019 durch das Verfahren der Spitzenkandidaten wie 2014 eine breit angelegt öffentliche Debatte über sein Versagen von 2010 bis 2019 fürchtet, verweigern sich 27 Miglieder des EU- Ministerrates dem Spitzenkandidatenverfahren.
Das kann man auch als Erfolg werten und bis zur Europawahl 2019 entsprechende Schlüsse als Europa von unten daraus ziehen
Zwei Kommentare die mir aus dem Herzen sprechen. Diese hochnäsigen, arroganten alten Männer sind kaum noch zu ertragen. Die Masken die sie tragen können ihre wahre "intelektzuelle" Sicht nicht mehr verstecken.
Europa wird von ihnen abgewickelt wie einst der DDR Staat, nur umgekehrt, da geht ein einst kulturelles, blühndes Staatenbündnis zu grunde. Uns wird aber keiner helfen, denn wir sind unbeliebt wie zuvor. Danke USA und Börse und Kapital und Logen.
Schließe mich den Vorrednern grundsätzlich an! Möchte nur noch ergänzen, dass ich immer mehr -festelle – wie auch in Deutschland der Gedanke Europa – durch Doppelmoral und Mittelmäßigkeit zerstört wurde. Das wacklige unsolidarische Europäische Haus wackelt aber auch schon, als Russland noch nicht so deutlich in Syrien eingegriffen hatte – nicht das die noch Schuld bekommen, so wie üblich! Weiterhin sollte man sich die Frage stellen, ob die Leute weiterhin so verdummt werden können, Polen Extrawurst, England Extrawurst, Ungarn – kein Ton mehr in den Medien und dann noch so “tollen Typen“ wie "Wir sollten nicht Schiedsrichter beim Thema Menschenrechte sein" (T.de.M.)
Vor dem EU-Gipfel möchte Innenminister Thomas de Maizière eine engere Kooperation mit der Türkei – trotz internationaler Kritik am Vorgehen gegen Medien und Kurden. Scheinheilig und schäbig und dann wundern sich die “ELITEN“ das manch einer AfD wählt!
Ach ja, die EU-Verfassung (ein werk von fast 800 seiten!!!) war eher ein "ehevertrag" zwischen menschen, die sich grundsätzlich zu tiefst misstrauen und eine scheinehe auf gegenseitigkeit eingehen wollten, als ein dokument, mit dem sich die einfache eurpäerin zu einem gemeinsamen europa der menschen hätte bekennen können. Dass sie scheiterte, ist noch heute eine sternenstunde der europäischen mitbestimmung (soweit sie in einigen, wenigen ländern noch existiert).
Nun zum eigentlichen thema: Was - herr Herden - hat die aufstellung von vorausgewählten "repräsentatnen" der herrschenden clique, zwischen denen gewählt werden kann, mit DEMOKRATIE zu tun? Die antwort lautet: NICHTS.
Demokratie ist die möglichkeit der mitwirkung an tagtäglichen entscheidungen, die mein/dein/unser konkretes leben betreffen. Die delegierung dieser aufgabe an von den herrschenden voraugewählte "repräsentanten" ist nicht demokratie - sondern oligarchie.