Für einen Tag waren regionale Anmaßung und Anspruch der derzeitigen türkischen Führung in den Vatikan ausgelagert. Die Audienz von Recep Tayyip Erdoğan bei Papst Franziskus zu Wochenbeginn empfand der UN-Sicherheitsrat offenbar als Freibrief, um sich einem anderen Konflikt zu widmen – dem mutmaßlichen Einsatz von Chlorgas im syrischen Bürgerkrieg. Konkret in der umkämpften Nordprovinz Idlib. Dies auf die Agenda zu setzen, ist legitim. Doch sollte dadurch nicht vernachlässigt werden, was bisher im gleichen Gremium völlig unerledigt – um nicht zu sagen: in bestürzender Weise unbeachtet – blieb: Der Angriff der Türkei auf eine Region in Nordsyrien und damit einen souveränen Staat, dessen territoriale Integrität geschleift wird.
Rüge und Rüffel
Der Sicherheitsrat müsste nur die UN-Charta zur Hand und ernst nehmen, um zu wissen, was zu tun ist. Die Türkei erfüllt mit ihrem Aufmarsch den Tatbestand der Aggression. Dafür verurteilt zu werden, wäre das Mindeste, was dem Täter widerfahren sollte, und wozu sich die 15 Mitglieder des Gremiums durchringen müssten. Nichts dergleichen ist geschehen. Und das, obwohl die Zahl der Opfer – besonders der zivilen – in der umkämpften Region Afrin unablässig steigt. Ankara kann sich augenscheinlich darauf verlassen, höchstens Rüge und Rüffel ausgesetzt zu sein. Wenn überhaupt. Man ist schließlich mit den großmächtigen, in die Schlacht um Syrien verwickelten Akteuren viel zu sehr verbandelt, als dass mehr passieren könnte.
Wladimir Putin kann ohne den Partner Erdoğan den Einstieg in eine syrische Nachkriegsordnung abschreiben oder muss vollends umdenken. Die bisher eingerichteten Deeskalationszonen werden nur dann das Vorspiel für einen dauerhaften Waffenstillstand sein, wenn sich Rebellenformation zur Feuerpause bereitfinden, auf die allein aus religiösen Gründen Ankara mehr Einfluss hat als Moskau.
Für die USA resultiert des Gebot zu Nachsicht und Opportunismus aus der türkischen NATO-Mitgliedschaft. Bündnisräson verbietet es, den Verstoß gegen Bündniswerte zu ahnden. Zumindest zurechtweisen, wenn nicht gar suspendieren müsste man die Türkei, bis die Truppe zurückgezogen sind. Nur bedürfte es dazu eines reinen Gewissens oder einer weißen Westen, womit die Amerikaner schwerlich aufwarten können.
Kein adäquater Ersatz
So bleibt als Fazit: Es ist nicht nur betrüblich, sondern verhängnisvoll, wenn die Vereinten Nationen derart blockiert sind, dass sie ihren eigenen Grundsätzen so oft und immer wieder die nötige Achtung verweigern. Es wird ein Gesetz der Serie bedient und ein Negativexempel statuiert für den Zustand der internationalen Beziehungen wie der Weltorganisation. Deren höchste Aufgabe besteht in der Sicherungs des Friedens. Was sollte also näherliegen, als in einer klaren Resolution den zu verurteilen, der in Nordsyrien Frieden bricht?
Diese Misere geht einem durch den Sinn, da gerade die Hosianna-Gesänge ins Verklingen kommen über 10.316 Tage ohne „Mauer“ bzw. ohne Ost-West-Grenze in Berlin – für Deutschland und Europa. Denn eine Staats- und Systemgrenze war die "Mauer" schließlich auch.
Es sind seit dem 9. November 1989 10.316 Tage vergangen, in denen die Weltordnung der Beherrschbarkeit entglitten ist. Das System der Interessenabgrenzung, der Vernunft und des Augenmaßes, wie es mit der „Ordnung von Jalta“ – der man so wenig nachtrauern muss, wie man sie geringschätzen sollte – fast 45 Jahre lang existiert hat, fand bisher keinen adäquaten Ersatz.
Es handelte sich um ein System des Machtausgleichs, der erstarrten Fronten zwischen Ost und West und des Zwangs zur Friedenssicherung, woraus konkreter Nutzen für die Menschen erwuchs, die auf nichts mehr angewiesen waren und es heute weiterhin sind als den Ausschluss von Krieg und Gewalt. Es ist in 10.316 Tagen nicht gelungen, eine Ordnung zu etablieren, die dem unter völlig anderen Voraussetzungen gerecht wird. Die Vereinten Nationen sind in so tragischer wie bezeichnender Weise daran gehindert, sich darum verdient zu machen.
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