Bescheinigt man dem russischen Kapitalismus, brachial und anarchistisch zu sein, hat das mit Wladimir Putin nicht viel zu tun. Werden andere Seiten aufgerufen, dann schon. Geht es um die postsowjetische Ambivalenz des Systems, die Osmose von Staat und Wirtschaft oder die kantige Authentizität einer Gesellschaftsordnung, dann ist dieser Präsident die Idealbesetzung, angemessen und adäquat. Keinem weltmoralischen Erlöserpathos zugetan, das Menschenrechte über Menschenleben stellt, sondern pragmatischer Vernunft. Das soll keine Laudatio sein, aber nach Erklärungen zu suchen, weshalb Putin Russland inzwischen 18 Jahre lang regiert und voraussichtlich bis 2024 regieren wird, das sollte bei aller Verteufelung noch erlaubt sein.
In seiner kühlen Rationalität hat sich dieser Präsident seinem Land nicht ergeben, sondern gewachsen gezeigt. Was im sonstigen Europa wenig bis gar nicht geschätzt wird. Warum hatte der chaotische Jelzin einen besseren Leumund? Vermutlich, weil sich Russland unter seiner Führung prächtig domestizieren ließ, während Putin aus einer kapitalistischen Großmacht einen großmächtigen Konkurrenten machte, der im globalen Ranking ein globaler Player sein will – angemessen und adäquat. Dabei werden nationale Interessen nicht verklärt, sondern als Handlungsmotiv wahrgenommen. Woraus klare Botschaften resultieren, die leicht zu entschlüsseln sind. Darf Gerhard Schröder bei Putins vierter Amtseinführung im Kreml als einer von drei Honoratioren direkt gratulieren, wird nicht nur der Gaslobbyist, sondern ebenso der Typ des Realpolitikers hofiert, der in Deutschland vom Aussterben bedroht ist. Präsident und Kanzler sind sich einst – s.o. – aus pragmatischer Vernunft so nahe gekommen, dass es heute fast irreal wirkt: im Frühjahr 2003, als sie sich der US-Invasion im Irak verweigerten. George Bushs Koalition der Willigen setzten damals Russland, Deutschland und Frankreich den Konsens der Kriegsunwilligen entgegen. Die Regierung Merkel täte gute daran, im Geiste dieses Einvernehmens aus ihrem konfrontativen Umgang mit Russland auszusteigen. Das würde zwar den NATO-Generalsekretär brüskieren, aber Deutschland dienen. Sie hat dazu gegenüber Putin noch einmal ein paar Jahre Zeit. Es wirkt wie eine Gnadenfrist.
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