Die Europäische Union könnte vor einer bitteren Lektion stehen, sollte sie nach ihrem jüngsten Brexit-Gipfel auf den Boden der britischen und damit ihrer Realitäten geholt werden. Scheitert der Brexit-Deal in Großbritannien, scheitert auch die EU mit ihrem Bemühen um einen regulierten Ausstieg. Es wäre erneut der Beweis erbracht, wie sehr im vereinten Europa Wille und Wirklichkeit auseinander driften. Im Augenblick zumindest.
Das abgesegnete Brexit-Abkommen ist nichts mehr wert, sollte es Mitte Dezember im britischen Unterhaus durchfallen und der britischen Premierministerin nur noch einen ungeordneten Ausstieg aus ihrer Regierungsverantwortung bescheren. Müsste Theresa May zurücktreten, wären gewiss Neuwahlen fällig. Die Konsequenz: Zum D-Day am 29. März 2019 gäbe es wegen der bei Parlamentswahlen einzuhaltenden Fristen nurmehr eine geschäftsführende Regierung ohne Mandat. Das prophezeite Chaos wäre eingeladen, sich zu entfalten.
Ab nach unten
Wenn das so ist oder sein kann, war der Europäische Rat dann gut beraten, den vorliegenden Vertragstext so ostentativ und so kompromisslos abzusegnen, wie das am 25. November beim Sondertreffen in Brüssel passiert ist? Großbritannien wird der Bescheid zuteil: Es gibt diesen Deal oder keinen. Man kann das Erpressung oder Nötigung nennen und für manchen Geschmack übertreiben. Wie eine Demütigung wirkt es auf jeden Fall. Ein kurzer Gipfel macht „kurzen Prozess“ mit einem Abtrünnigen. Wer wie die Briten vorerst im Binnenmarkt und in der Zollunion bleibt, ohne nach dem 29. März weiter mitzuentscheiden, wie deren Praxis ausfällt, wird nach unten durchgereicht.
Für überzeugte Brexiteers dürfte das aus optischen wie faktischen Gründen nicht hinnehmbar sein. Statt des erstrebten harten Schnitts gibt es eine Mitgliedschaft light, die zu einem Mitglied zweiter Klasse führt, das seine Interessen nur wahren kann, lässt es sich auf ein Art Assoziierten-Status ein. Der Vergleich mit den Vertragsstaaten der Östlichen EU-Partnerschaft wie Ukraine, Moldau, Georgien, Belarus, Armenien und Aserbaidschan bietet sich an, trifft es nicht ganz, wirkt aber nicht vollends deplatziert.
Wie sich zeigt, hat die britische Seite von Anfang an ihre Verhandlungsstärke überschätzt, die sie als drittstärkste Volkswirtschaft Europas zu haben glaubte, und die Entschlossenheit in Brüssel unterschätzt, dem Ausstiegswilligen Paroli zu bieten. Womöglich waren die Unterhändler um den Franzosen Michel Barnier bei ihrer harten Linie nicht einmal vorrangig darauf bedacht, potenzielle Nachahmer abzuschrecken. Sie wollten (und mussten wohl auch) die EU als Rechts- und Vertragsgemeinschaft schützen, die niemandem Sonderrechte einräumt, weil das zur Erosion führt und den inneren Zusammenhalt zerstört.
Ein hoher Preis
Allen Verteidigern der EU, besonders denen, die sie zwar für neoliberal, zugleich aber für unvermeidlich und alternativlos halten, sollte klar sein, was das bedeutet: Wer aussteigen will, zahlt eine hohen Preis, der muss Souveränität und Selbstbestimmung de facto zurückkaufen. Wer Verträge wie die von Nizza (2003) und Lissabon (2009) biegen oder brechen will, muss zum Strafexerzieren. Wer die NATO verlässt, hat mit politischen Kollateralschäden zu rechnen – wer der EU den Rücken kehrt oder sie brüskiert, riskiert einen Wirtschaftskollaps.
Als nächstes Mitglied wird das Italien zu spüren bekommen, dessen Regierung beim Haushaltsrecht die verbürgten und beanspruchten Rechte eines souveränen Staates dort einschränken soll, wo es die Interessen der Währungsunion als kollektivem Verbund und als Rechtsgemeinschaft tangiert. Sind bei dieser Kraftprobe die Gewichte zwischen Rom und Brüssel genauso eindeutig verteilt wie zwischen London und Brüssel?
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