Preisabfrage

Klassengesellschaft Was würde es kosten, sollte #unten überflüssig werden, kein Dossier menschlicher Demütigung und Erniedrigung mehr sein?

Ein Blick zurück lohnt häufig, in diesen Wochen besonders. Vor 100 Jahren standen in Deutschland aufständische, selbstbewusste Arbeiter und Soldaten vor der alles entscheidenden Frage, ob sie ihren Aufstand gegen das monarchistische Regime mit einer Revolution krönen oder im Sumpf des Reformismus untergehen. Nicht um Rätedemokratie oder Nationalversammlung ging es, sondern Revolution oder Konterrevolution.

Wie weit konnte man kommen mit einer Demokratie von unten, wie sie seinerzeit mit den Arbeiter- und Soldatenräten von Kiel über Berlin bis München in Erscheinung trat? Sehr weit, so weit, dass deren Feinde die Contenance verlieren und blank ziehen konnten, wie an den Strafexpeditionen und Massakern der Freikorps im Jahr 1919 abzulesen war.

Die Räte entstanden in nur einer Woche zwischen dem 3. und 10. November 1918 mit einer Vehemenz sondergleichen, sie schienen entschlossen, mit einer Welt zu brechen, die sie zu vier Jahren unvorstellbaren Grauens verurteilt hatte. Sie wollten die Gesellschaft durchroden, den Klassenstaat schleifen und ein ganzes Offizierkorps entmachten.

„Volk ist eine herrliche Sache“, schreibt der Romancier Alfred Döblin in seinem Jahrhundertroman November 1918, "es kann auch aufsteigen wie das Meer“. Tatsächlich zeigten die Räte, Marx und Engels hatte sich nicht getäuscht mit ihrer Annahme im Kommunistischen Manifest, dass die Befreiung der Arbeiterklassen nur das Werk dieser Klasse selbst sein konnte. Oder nicht stattfinden würde.

Drang und Wille

Soll heißen: Eine Klassengesellschaft wie die heutige auf der Plattform #unten zu beschreiben, zu beklagen und zu geißeln, das hilft wenig und ändert wenig, werden nicht die ihr zugrunde liegenden Klassengegensätze als Aufforderung zum Klassenkampf verstanden, der nichts mehr verdient hat, als geführt zu werden. Was sonst sollte anstehen, wenn der soziale Burgfrieden eine Schimäre, die Harmonie der Klassen Betrug, die Kluft zwischen oben und unten eine Schande ist. Es hilft wenig, den Druck des Eisens zu beklagen, in die Lohnsklaverei die prekär Beschäftigten da ganz #unten schlägt, wenn Drang und Wille fehlen, dagegen zu rebellieren, indem es gesprengt wird. Der Sprung von der „Klasse an sich“ zur „Klasse für sich“ ist der Schlüssel.

Nur wer wagt es, das verfemte, verteufelte und gefürchtete Banner des Klassenkampfes zu schwingen in einer Welt des Hohns, der Ignoranz, der hedonistischen Milieusucht, der selbstgefälligen Geschwätzigkeit, der toten Winkel des Rückzugs, in denen die soziale Depression nistet, der süffisanten Zynismen, der Albernheiten, die Argumente simulieren, der Parteien, denen das parlamentarische Dasein Kokon der Abschottung ist, der Gewerkschaften, die nur Tarifpartner kennen und sonst nicht viel mehr, den politischen Streik beispielsweise gar nicht.

Ja, die Revolution

In ihren Artikeln für den Spartakusbund und die Rote Fahne zwischen Oktober 1918 und Januar 1919 – bis sie von Landsknechten der Garde-Kavallerie-Schützen-Division im Einvernehmen mit sozialdemokratischen Führern gelyncht wurde – hat Rosa Luxemburg als Beobachterin der Ereignisse stets darauf verwiesen: Ja, die Revolution hat etwas erreicht, doch wird es nur von Bestand sein, wenn das Ruhe-und-Ordnung-Dogma, das Privateigentum und die sich darauf gründende Klassenherrschaft angetastet werden.

Am 18. November 1918, neun Tage, nachdem der Sozialdemokrat Philipp Scheidemann vom Balkon vor dem Lesezimmer des Reichstages vorbei demonstrierenden Arbeitern zugerufen hatte „Es lebe die Republik!“, was so gar nichts von Proklamation hatte, schrieb sie in der Roten Fahne: „Die Abschaffung der Kapitalherrschaft, die Verwirklichung der sozialistischen Gesellschaftsordnung – dies und nicht Geringeres ist das geschichtliche Thema der gegenwärtigen Revolution.“

Bekanntlich wurde es verfehlt, unter maßgeblicher Mitwirkung von Regierungssozialdemokraten, die damals offenbarten, was ihnen bis heute heilig blieb und ihnen nun zur Marginalisierung gereicht: den Erhalt von Kapitalherrschaft, gepaart mit parlamentarischer Genügsamkeit, der die Arbeiter- und Soldatenräte von 1918 um mehr eine Epoche voraus waren.

Dieser Vergleich ist keine nostalgische Geisterfahrt, keine sentimentale Totengräberei, kein Ausdruck illusionärer Hoffart, kein Ausflug ins Nirwana der Utopie, sondern eine ganz schlichte Preisabfrage. Was würde es kosten, sollte #unten eines Tages überflüssig werden und kein Dossier menschlicher Demütigung mehr sein.

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Geschrieben von

Lutz Herden

Redakteur „Politik“, zuständig für „Ausland“ und „Zeitgeschichte“

Lutz Herden studierte nach einem Volontariat beim Studio Halle bis Ende der 1970er Jahre Journalistik in Leipzig, war dann Redakteur und Auslandskorrespondent des Deutschen Fernsehfunks (DFF) in Berlin, moderierte das Nachrichtenjournal „AK zwo“ und wurde 1990/91 zum Hauptabteilungsleiter Nachrichten/Journale berufen. Nach Anstellungen beim damaligen ORB in Babelsberg und dem Sender Vox in Köln kam er Mitte 1994 als Auslandsredakteur zum Freitag. Dort arbeitete es von 1996 bis 2008 als Redaktionsleiter Politik, war dann bis 2010 Ressortleiter und danach als Redakteur für den Auslandsteil und die Zeitgeschichte verantwortlich.

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