Sehnsucht nach Ohnmacht

EU Die Vernunft hat offenbar einige EU-Außenminister übermannt. Sie lassen neue Russland-Sanktionen erst mal ausfallen. Bis zum EU-Gipfel Ende der Woche oder ganz?
Gegenüber Russland hatte Minister Steinmeier zuletzt wenig neue Argumente
Gegenüber Russland hatte Minister Steinmeier zuletzt wenig neue Argumente

Foto: Kirill Kudryavtsev - AFP/Getty Images

Wie es ihre Art ist, hat die deutsche Kanzlerin am Wochenende in vorfühlender Vorsicht lanciert, dass man wegern Syrien weitere Sanktionen gegen Russland erwägen solle. Sie dürfte damit besonders den Europäischen Rat behelligen, der am 21. Oktober in Brüssel tagt.

Ob es wirklich so kommt, nachdem die EU-Außenminister soeben ohne Beschluss in dieser Sache auseinander gingen? Offenbar gibt es Regierungen in der EU, die einem latent konfrontativen Kurs gegenüber Russland nicht eben viel abgewinnen können. Wohl auch in der auf Erfahrung gegründeten Gewissheit, dass sich die Regierung in Moskau von einer solchen – letztlich reinen – Symbolpolitik nicht beeindrucken, geschweige denn beeinflussen lässt.

Ausgerechnet jetzt

Ohnehin hält sich die Erfolgsbilanz der seit 2014 verhängten Reglementierungen wegen des Ukraine-Konflikts in Grenzen. Genau genommen lässt sich gar keine Bilanz ziehen. Sie existiert schlichtweg nicht – es sei denn als negatives Vermächtnis eines Verzichts auf Realpolitik und verweigerter Einsicht in tatsächliche Ursachen der Ukraine-Politik Russlands.

Bei den Sanktionen zum jetzigen Zeitpunkt draufsatteln, das wäre kaum dazu angetan, die wieder in Gang gekommenen Syrien-Talks zwischen den USA uznd Russland voranzubringen. Wer kann es brauchen, dass sie scheitern? Die Menschen in Aleppo gewiss nicht. Gerade im Augenblick ist ein Dialog nötig, der den Realitäten auf dem Kriegsschauplatz ebenso Rechnung trägt wie humanitären Geboten.

Was ist mit Brandt?

Neuerliche Sanktionsgebaren zeugen von Einfallslosigkeit. Sie bieten die beste Gewähr dafür, dass die Beziehungen nicht zuletzt Deutschlands zu Russland weiter verkrampft und nur dem verpflichtet bleiben, was als ideologischer Ertrag permanenter Feindbildpflege zugute kommt.

Dies offenbart eine grundsätzliche Kalamität im Auftreten des sozialdemokratischen Amtsinhaber Steinmeier. Wer wenn nicht er, müsste für einen Paradigmenwechsel der deutschen Außenpolitik sorgen, bei der die viel beschworenen Tugend Willy Brandts und Egon Bahrds nicht nur zitiert, sondern beherzigt werden. Ein ganz wesentliches Prinzip ihrer Entspannungspolitik Anfang der 70er Jahre bestand darin, die Interessen und Positionen der Gegenseite nicht nur anzuerkennen, sondern darauf zu achten, dass sein auftauchten in geschlossenen Verträgen.

Beim deutsch-sowjetische Vertrag von 1970 über einen gegenseitigen Gewaltverzicht heißt es schon in der Präambel, man sei bestrebt, von der „wirklichen Lage“ in Europa auszugehen. Dazu gehörte die Auffassung der Sowjetunion, dass die mit und nach dem Zweiten Weltkrieg entstandenen Grenzen in Europa nicht verändert werden dürfen, schon gar nicht gewaltsam.

Im Grundlagenvertrag zwischen der BRD und der DDR von 1972, fand sich der andere deutsche Staat durch Bonn zwar nicht völkerrechtlich anerkannt, aber doch wie ein Staat behandelt, mit dem man Abkommen aushandelte oder Ständige Vertreter genannte Botschafter austauschte. Diese Denkschule eines pragmatischen Respekts gegenüber Partnern, die keine Verbündeten, geschweige denn Freunde waren, ist verloren gegangen. Sie wurde ersetzt durch eine angemaßte Vormundschaft gegenüber Staaten wie Russland, aber auch Syrien, die von Partner zu Gegnern wurden, indem sie außerhalb postulierter zivilisatorischer Grundnormen verortet wurden.

Praxistest nicht bestanden

Nur hat ein „menschenrechtsgestützte“ Interventionismus – sei er militärischer oder ideologischer Natur – den Praxistest nicht bestanden. Der Nahe Osten, Nordafrika oder Mittelasien sind heute von Konflikten zerrissener denn je. Noch nie gab es soviel funktionsunfähige Staaten, die Millionen von entwurzelten Menschen hinterlassen, gegen die sich Europa abschottet und alle Humanität fahren lässt, wenn sie als Flüchtlinge Hilfe suchen.

Im Prinzip ist die neuerliche Sanktionsdebatte ein Indiz dafür, wie sehr man sich in die Sackgasse manövriert hat. Es wird Macht suggeriert, wo Ohnmacht vorherrscht.

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Geschrieben von

Lutz Herden

Redakteur „Politik“, zuständig für „Ausland“ und „Zeitgeschichte“

Lutz Herden studierte nach einem Volontariat beim Studio Halle bis Ende der 1970er Jahre Journalistik in Leipzig, war dann Redakteur und Auslandskorrespondent des Deutschen Fernsehfunks (DFF) in Berlin, moderierte das Nachrichtenjournal „AK zwo“ und wurde 1990/91 zum Hauptabteilungsleiter Nachrichten/Journale berufen. Nach Anstellungen beim damaligen ORB in Babelsberg und dem Sender Vox in Köln kam er Mitte 1994 als Auslandsredakteur zum Freitag. Dort arbeitete es von 1996 bis 2008 als Redaktionsleiter Politik, war dann bis 2010 Ressortleiter und danach als Redakteur für den Auslandsteil und die Zeitgeschichte verantwortlich.

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