Putsch in Russland: Prigoschin fordert Putin und Schoigu heraus

Ukraine-Krieg Der Aufstand von Jewgeni Prigoschin läuft auf einen Staatsstreich hinaus. Präsident Putin muss sich auf die Seite von Verteidigungsminister Schoigu stellen. Das stärkt ihn nicht unbedingt
Ein Soldat der Wagner-Gruppe von Prigoschin in Rostow (24.06.2023)
Ein Soldat der Wagner-Gruppe von Prigoschin in Rostow (24.06.2023)

Foto: Imago/SNA

Putschisten waren sie gewiss nicht. Widerständler und Widersacher schon, Alexander Ruzkoi und Ruslan Chasbulatov, der eine russischer Vizepräsident und hochdekorierter Luftwaffengeneral zu Sowjetzeiten, der andere Vorsitzender eines provisorischen Parlaments der Russischen Föderation. Beide hatten sich vor drei Jahrzehnten, im Sommer 1993, in einen Machtkampf mit dem damaligen Präsidenten Boris Jelzin gewagt. Dessen autoritäre Allüren sollten eingeschränkt, dessen ökonomische Reformen blockiert werden. Bastion und Refugium der Aufrührer war das Weiße Haus in Moskau, seinerzeit Sitz des Volksdeputiertenkongresses, eine Art Legislative des Übergangs nach der Implosion der Sowjetunion Ende 1991.

An der Grenze zum Staatsnotstand

Jelzin fühlte sich von dieser Kampfansage derart herausgefordert, dass er das Gebäude als feindliche Festung betrachtete und der Armee befahl, es ohne Rücksicht auf Verluste einzunehmen. Am Morgen des 5. Oktober 1993 begann mitten in Moskau ein von Panzern ausgehender Sturmangriff, der mutmaßlich mehr als 200 Menschenleben kostete. Jelzins setzte sich in einem Machtkampf durch, den er früher oder später auch ohne den Einsatz der Streitkräfte für sich entschieden hätte.

Er wollte es so, wie es kam. Es sollte dieses Exempel statuiert werden. Dass Ruzkoi und Chasbulatow überlebten, war der Tatsache zu verdanken, dass es keine Märtyrer geben sollte und die Schlacht um das Weiße Haus zu den unausweichlichen postsowjetischen Beben zählte, als Machtverhältnisse außer Kontrolle geraten mussten, um neu justiert werden zu können.

Russland befand sich zwar innenpolitisch in einer labilen Situation, war aber außenpolitisch nicht herausgefordert, sieht man vom Abzug der eigenen Streitkräfte aus dem Osten Deutschlands ab. Zwar gab es bewaffnete Konflikte in einigen postsowjetischen Staaten, doch Russland war zunächst kaum involviert.

Radikal anders sind die Umstände an diesem 24. Juni 2023. Wenn Jewgeni Prigoschin mit starken Einheiten seiner Wagner-Gruppe die Region Rostow besetzt, geschieht dies im russischen Hinterland der Front in der Ukraine. Eine Kommandozentrale der Armee wird blockiert oder beeinträchtigt. Das schadet oder sabotiert die russische Kriegsführung in einem kritischen Augenblick. Schließlich ist die ukrainische Armee zum Angriff auf russische Stellungen an einer extrem langen Front übergegangen. Das Wort vom Staatsnotstand drängt sich auf.

Keine Gnade

Insofern wird Prigoschin keine Gnade finden. Es ist damit zu rechnen, dass er ausgeschaltet wird – wie auch immer. Bei diesem Präzedenzfall der Meuterei und des Aufruhrs dürfte wie v0r 30 Jahren der Wille maßgebend sein, ein Exempel zu statuieren: im Kreml, bei der Armeeführung, der Generalität.

Prigoschin verfügt augenscheinlich nicht über die militärischen Kapazitäten, um auf Moskau zu marschieren. Noch nicht jedenfalls. Was sich anders darstellen kann, wenn reguläre Militäreinheiten zu ihm stoßen, die von Kommandeuren geführt werden, die wie Prigoschin dem Verteidigungsministerium und Generalstab Versagen und dekadenten Byzantinismus vorwerfen. Als Eroberer und Sieger von Bachmut greift Prigoschin gehörig in die Tastatur des Patrioten, wenn er erklärt: „Wir sind gekommen, um die Schande des Landes zu beenden, in dem wir leben. Wir retten Russland.“ Das lässt den Aufstand nicht vollkommen aussichtslos erscheinen, wie es vielleicht auf einen ersten Blick erscheinen mag.

Natürlich ist es denkbar, dass es Verteidigungsminister Dmitri Schoigu und Generalstabschef Valerij Gerassimov auf diese Zuspitzung angelegt haben, damit Prigoschin nicht länger als machttrunkener Rivale hingenommen werden muss, sondern als pflichtvergessener Vaterlandsverräter und Meuterer bekämpft werden kann. Eines haben sie auf alle Fälle erreicht, sie konnten Wladimir Putin zwingen, seine Konzilianz und ringrichterähnliche Neutralität gegenüber Prigoschin aufzugeben.

Hinter die in einer Fernsehansprache erfolgte Verurteilung der „Verräter“ – der Name Prigoschin fiel nicht – kann der Präsident nicht mehr zurück, er muss sich jetzt durchsetzen. Er kann dabei straucheln, wenn es länger oder zu lange dauert, einen offenkundigen Staatsstreich mit aller Härte abzuwenden. Wer sich in Rostow und Woronesch verschanzt, ist zumindest besser geschützt als damals die Verteidiger des Weißen Hauses. Prigoschin hat den Aufstand zwar angestoßen, aber wird darauf setzen, dass er Unterstützer findet.

Präsident Putin dürfte das im Auge haben, wenn er versucht, die Reihen hinter sich zu schließen. Es ist Teil seiner „patriotischen Antwort“, wenn er von einem „Dolchstoß“ spricht, zu dem in Zeiten wie diesen niemand ausholen dürfte. Wer es tue, müsse die Konsequenzen tragen.

Muss er weichen?

Es wird allzu häufig vergessen, dass Wladimir Putin als Nachfolger Boris Jelzins Ende 1999 ein Kompromisskandidat war, auf den sich seinerzeit die Armeeführung, die Geheimdienste, die Wirtschaftsverbände, die Oligarchen und das abdankende Jelzin-Lager einigten. Putin hat es vermocht, zwischen diesen Mächten die innere Balance zu wahren und sich bis zu einem bestimmten Punkt von ihnen unabhängig zu machen. Beides ist durch den Krieg in der Ukraine und seinen bisherigen Verlauf bereits erheblich in Frage gestellt. Durch einen Putschversuch wird es erst recht unterminiert.

Entweder wird der Präsident demnächst mehr als ihm lieb sein kann zum Mündel der Armee und Geheimdienste, die ihn gegen den Wagner-Aufstand verteidigt, wenn nicht gerettet haben. Oder er muss weichen. Dann schlägt die „Stunde der Patrioten“, die Prigoschin nicht unbedingt erleben wird.

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Geschrieben von

Lutz Herden

Redakteur, zuständig für „Ausland“ und „Zeitgeschichte“

Lutz Herden studierte nach einem Volontariat beim Studio Halle bis Ende der 1970er Jahre Journalistik in Leipzig, war dann Redakteur und Auslandskorrespondent des Deutschen Fernsehfunks (DFF) in Berlin, moderierte das Nachrichtenjournal „AK zwo“ und wurde 1990/91 zum Hauptabteilungsleiter Nachrichten/Journale berufen.

Nach Anstellungen beim damaligen ORB in Babelsberg und dem Sender Vox in Köln kam er Mitte 1994 als Auslandsredakteur zur Wochenzeitung Freitag. Dort arbeitete es von 1996-2008 als Redaktionsleiter Politik, war dann bis 2010 Ressortleiter und danach als Redakteur für den Auslandsteil und die Zeitgeschichte verantwortlich.

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