Es hat sich eingebürgert, dass Konfliktbefunde häufig vom Augenblick zehren, der scheinbar ohne Vorleben ist. Der desolate Zustand des bundesdeutschen öffentlich-rechtlichen Mediensystems, dessen Existenz ernsthaft in Frage steht, ist jedoch weder eine Folge personeller Entgleisungen, wie sie der im Vorjahr zum Rücktritt gezwungenen Intendantin (Patricia Schlesinger) des Rundfunks Berlin-Brandenburg (RBB) angelastet werden, noch eines lange schwelenden Streit über die letzte Gebührenerhöhung. Die Ursachen liegen tiefer. Sie führen zurück in die Jahre 1990/91. Mit dem Ende der DDR mussten Fernsehen und Hörfunk im Osten reorganisiert werden, wofür eine historisch einmalige Vorleistung erbracht war. Sie bestand in einer Demokratisierung d
Funkstille: Am 31. Dezember 1991 wird der Sender in Berlin-Adlershof abgeschaltet
Ostfernsehen Es ist vor 32 Jahren ein einmaliger Vorgang in der europäischen Fernsehgeschichte. Ein Sender muss über Nacht seinen Betrieb einstellen. Gemäß Art. 36 des Einigungsvertrages wird der Deutsche Fernsehfunk liquidiert – ein Rück- und Ausblick
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Lutz Herden
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g der DDR-Medien, die – von ideologisch motivierter Vormundschaft befreit – ihre Programme innerhalb kurzer Zeit atemberaubend erneuert hatten. Im Westen Deutschlands wurde das nur allzu gern als „revolutionärer Umschwung“ gefeiert.Die vom ZDF veranstalteten 23. Mainzer Tage der Fernsehkritik standen im Frühjahr 1990 unter dem Leitgedanken „Revolutionäre Öffentlichkeit. Das Fernsehen und die Demokratisierung im Osten“. Der damalige ZDF-Intendant Dieter Stolte sah im Eröffnungsreferat Grund zu der Frage, ob das Fernsehen mehr denn je als „vierte Gewalt“ agiere. Wenn ja, ob und wie man dem gewachsen sei. Es gab seinerzeit Grund zu der Annahme: Auf die mediale Demokratisierung im Osten folgt die im Westen. Das Naheliegende und Mindeste, was man erwarten konnte. Selten erschien die Situation günstiger, unübersehbare Mängel im öffentlich-rechtlichen System der alten BRD zu überwinden. Allein dem übermäßigen Einfluss der Parteien in Leitungsebenen und Aufsichtsgremien der ARD-Anstalten und des ZDF musste Einhalt geboten werden. Es konnte nach dem, was im Osten passiert war – der vollzogenen Wende bei laufendem Sendebetrieb – kein Tabu sein, auf zeitgemäße Erneuerung im Westen zu drängen. Was geschah, war das genaue Gegenteil. Es fanden sich teils groteske Zustände konserviert, wenn allein bei der Gründung und dem Aufbau des Mitteldeutschen Rundfunks (MDR) die Dominanz parteipolitischer Interessen alles übertraf, was bis dahin üblich war.Im Prinzip hatte sich bereits 1990 das Ansinnen erledigt, dass die Medienwende im Osten sowie die daraus folgende Neuordnung seiner Rundfunklandschaft ein Anstoß sein konnte für eine Medienreform im Westen. Sie nie ernsthaft erwogen, sondern als Zumutung, gar Provokation verworfen zu haben, erweist sich im Nachhinein als Versäumnis sondergleichen, vergegenwärtigt man sich den jetzigen Zustand des öffentlich-rechtlichen Systems, die Zweifel an seiner Finanzierbarkeit, Zukunftsfähigkeit und Legitimation. Ausschlaggebend für den Umgang mit Hörfunk und Fernsehen im Beitrittsgebiet war der Wille zu politischer Flurbereinigung und Landnahme des Kalibers Raubrittertum durch die Neuverteilung der Fernsehfrequenzen. Es galt jene apodiktische Maxime, die Universitäten, Schulen, Theatern, Museen, Verlagen oder sonstigen Kulturinstituten gleichermaßen zum Verhängnis wurde. Der Westen drang in den Osten vor und nichts durfte bleiben, wie es war. Auch die Medieneinheit wurde nach den Vorgaben der in Bonn regierenden Koalition aus CDU/CSU und FDP unter dem Kanzler Helmut Kohl vollzogen.Der NDR holt sich Mecklenburg-VorpommernWozu gab es das Vehikel Einigungsvertrag? Darin sah Artikel 36 die Auflösung des „Rundfunks der DDR“ und des „Deutschen Fernsehfunk“ bzw. deren Überführung „in Anstalten des öffentlichen Rechts einzelner oder mehrerer Länder“ spätestens bis zum 31. Dezember 1991 vor. Absatz 6 räumte zwar die Möglichkeit ein, den DFF als Fünf- oder Sechsländeranstalt unter föderaler Verantwortung aufrechtzuerhalten, doch war in den dafür maßgebenden sechs ostdeutschen Landesregierungen weder die Bereitschaft vorhanden, noch erschien das Zugeständnis opportun, auf Neugründungen zu verzichten. Der Deutsche Fernsehfunk war als Archiv, Immobilie und Materiallager gefragt, nicht als leistungsfähige und ökonomisch funktionierende Anstalt. Eines vor allem ließ sich dank Artikel 36 rechtlich so gut wie unanfechtbar über die Bühne bringen: der erwünschte Personalaustausch.Wer zu Alternativen neigte und die Stirn besaß, diese ernsthaft ins Gespräch zu bringen, musste sich den denunziatorischen Vorwurf gefallen lassen, ein gescheitertes und entsorgtes Gesellschaftssystem rehabilitieren zu wollen. Um nur ein Beispiel anzuführen: Als sich im Frühjahr 1990 im Osten eine zunehmende Kommerzialisierung von Kunst und Kultur abzeichnete, entstand der „Schutzverbund Künstler der DDR“, an dem auch Autoren, Dramaturgen und Regisseure des Deutschen Fernsehfunks beteiligt waren. Den zwischen Bonn und Ostberlin um die gleiche Zeit ausgehandelten ersten Staatsvertrag zu einer Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion solle man durch eine „Kulturunion“ ergänzen, so die Forderung des Schutzverbundes. Der Status von Fernsehautoren, freien Regisseuren und Dramaturgen im Westen wäre davon nicht unberührt geblieben. Man konnte ihnen schwerlich vorenthalten, was den Kollegen im Osten zuerkannt gewesen wäre. Nur blieb die „Kulturunion“ ein frommer Wunsch. Es bestand keinerlei Interesse, etwa das vorbildliche DDR-Urheberrecht mit einer gesamtdeutschen Relevanz auszustatten, um nur ein Motiv der Verweigerung zu nennen.Natürlich kann über das, was im öffentlich-rechtlichen Mediensystem an reformerischer Inventur machbar gewesen wäre, im Nachhinein nur spekuliert werden. Eines aber hätte sich ohne jeden Zweifel angeboten: Über den Zuschnitt vorhandener ARD-Anstalten im Westen wie der sich 1991 entstehenden im Osten nachzudenken, um nach wirtschaftlichen, programmlichen und personellen Synergieeffekten Ausschau zu halten. Der damalige ARD-Vorsitzende Hartwig Kelm meinte später in einem Interview, dass es eine „Grundidee“ hätte sein können, „größere Einheiten zusammenzuschließen. In den alten Bundesländern waren der Westdeutsche Rundfunk WDR, der Bayerische Rundfunk BR und der NDR schon hinreichend groß, vielleicht sogar übermächtig groß. Es war folglich nicht notwendig, dass der NDR sich auch noch Mecklenburg holt“. Der NDR tat freilich genau das. Womit das 1990/91 erwogene Modell hinfällig war, dem Osten – wenn schon der Deutsche Fernsehfunk liquidiert wurde – zwei Dreiländeranstalten zu geben: eine Nordschiene NORA, getragen von Mecklenburg-Vorpommern, Berlin und Brandenburg, und als Südschiene den MDR als gemeinsame Anstalt Sachsen-Anhalts, Thüringens und Sachsens.Weil das Projekt NORA entfiel – der Ostdeutsche Rundfunk Brandenburg (ORB) und der Sender Freies Berlin (SFB) bis zu ihrer Fusion 2003 als finanziell klamme Einländeranstalten am Tropf des ARD-Finanzausgleichs ein kümmerliches Dasein fristeten (was sie als RBB weiter tun) – war kein Anlass mehr vorhanden, ernsthaft über neue Mehrländeranstalten im Altbundesgebiet nachzudenken. Allein Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz konnten sich 1997/98 darauf einigen, dass der Süddeutsche Rundfunk (SR) und der Südwestfunk (SWF) zum Südwestrundfunk (SWR) fusionierten.Rudolf Mühlfenzls GebetsbuchDie medienpolitischen Weichenstellungen 1990/91 wurden in der Regel mit dem Label „alternativlose Entscheidung“ versehen, ohne dass eine demokratische Debatte darüber – womöglich mit offenem Ausgang – überhaupt in Betracht kam. Offenkundig galt es keineswegs als sittenwidrig, wenn politische Pfründe gesichert wurden. Schon die Wahl Rudolf Mühlfenzls – CSU-Mitglied, in den 1970er Jahren Chefredakteur beim Bayerischen Rundfunk und Wunschkandidat Helmut Kohls für das Amt des mit Artikel 36 vorgesehenen Rundfunkbeauftragen im Osten – geriet zum anrüchigen, weil fast konspirativen Vorgang. Mühlfenzl wurde am 15. Oktober 1990 in der Berliner Außenstelle des Bonner Kanzleramtes von „kommissarischen Landessprechern“ quasi auf Zuruf bestimmt. Dieses Gremium war durch die einen Tag zuvor gewählten Landtage der fünf Ostländer nicht legitimiert, geschweige denn bereit, andere Bewerber in Erwägung zu ziehen. Ein Verstoß gegen das demokratische Minimum war die Abwesenheit von Gesandten der SPD. Manfred Stolpe, designierter brandenburgischer Ministerpräsident, fand das „als Arroganz der Macht zum Kotzen“.Leider kam die fragwürdige Bestellung Mühlfenzls auch deshalb zustande, weil es die letzte DDR-Volkskammer unterließ – besser: mit ihrer CDU- und SPD-Mehrheit unterlassen wollte –, im September 1990 einen eigenen ostdeutschen Rundfunkbeauftragten zu wählen. Die SPD konnte danach lamentieren, soviel sie wollte – einmal im Amt, ließ sich Rudolf Mühlfenzl nicht darin beirren, seinen Auftrag kompromisslos zu erfüllen und bei jeder Gelegenheit den Artikel 36 als „mein Gebetsbuch“ zu hofieren. Sein Stab, der im ehemaligen DDR-Hörfunk an der Ostberliner Nalepastraße Quartier nahm, trug Züge einer klassischen Seilschaft. Dazu zählten Volkram Gebel (CDU), alsbald Gründungsbeauftragter des Mitteldeutschen Rundfunks (MDR), Helmut Haunreiter (CSU), Beauftragter für Berlin, Rolf Markner (CDU), später MDR-Verwaltungsdirektor, dazu Ferdi Breidbach (CDU) als Umschulungsbeauftragter oder Matthias Gehler als Pressesprecher, ebenfalls CDU. Dieses Personal, ganz und gar aus einer politischen Ecke, führte vor, dass bei CDU/CSU nicht lange gefackelt wird, wenn Medien- als gesellschaftliche Macht akkumuliert werden kann.Dies setzte sich fort, als am 31. Mai 1991 für Sachsen, Thüringen und Sachsen-Anhalt der Mitteldeutsche Rundfunk (MDR) als Dreiländeranstalt auf die Schiene gesetzt und mehr Machtgebilde als Fernsehsender war. Den Ausschlag gab auch in diesem Fall das rekrutierte Spitzenpersonal. Als Intendant implementiert wurde Udo Reiter, zwar parteilos, aber Mitglied der CSU-Medienkommission und bestens vernetzt mit dem Tross hinter Mühlfenzl. Ihm winkte, wie der „Stern“ am 26. September 1991 berichtete, ein Jahresgehalt von 360.000 DM, womit er deutlich über den 198.000 DM lag, die etwa dem Ministerpräsidenten Stolpe als Salär zugedacht waren. Fernsehdirektor am anfänglichen MDR-Hauptsitz in Dresden wurde Henning Röhl, Ex-ARD-Aktuell-Chefredakteur. Ulrike Wolf, wegen ihrer CDU-Affinität als NDR-Chefredakteurin ohne weitere Aufstiegsperspektive, übernahm als Direktorin das Funkhaus in Dresden, Ralf Reck, bis dato Fernsehdirektor in Hamburg, das in Magdeburg. Was sie einte, waren CDU-Nähe oder CDU-Parteibuch und die Aussicht auf Jahreseinkommen um die 240.000 DM, was einer neuen Anstalt wie dem MDR Ausgaben bescherte, die sich im Gesamtetat nicht lumpen ließen.Da früher oder später die Versorgungsansprüche der dann pensionierten Medienkommissare zu Buche schlagen mussten, erwiesen sich Gebührenanhebungen als stets willkommene Geldquelle. Als Udo Reiter 2011 als Intendant abdankte und der Coup misslang, Bernd Hilder, bis dahin Chefredakteur der „Leipziger Volkszeitung“ und ebenfalls der CDU verbunden, als Nachfolger zu installieren, wurde schließlich mit der Justiziarin Karola Wille nach 20 Jahren MDR erstmals eine Ostdeutsche damit betraut, den Sender zu führen. Aufschlussreich, wie sich Reiter verabschiedete: „Flapsig gesagt ist die Besatzungszeit mit dieser Stabsübergabe endgültig vorbei.“Es wurde kein peripherer Akteur abserviertDie Staats- und Parteinähe der MDR-Begründer war so unverschämt offensichtlich, dass nicht nur die SPD einen Verstoß „gegen die politische Hygiene“ reklamierte, sondern sich auch ARD-Anstalten wie der Hessische Rundfunk (HR) peinlich berührt zeigten. Chefredakteur Wilhelm von Sternburg schrieb im Juli 1991: „Wer heute Texte von Kurt Tucholsky oder Carl von Ossietzky, Paul Sethe oder Dieter Gütt liest, der weiß, dass es in Deutschland nur noch wenig Sender und Sendeplätze gibt, die solch kritisch-demokratischem Geist Veröffentlichungschancen bieten. Jedenfalls dann, wenn es um die aktuelle Tagespolitik geht, um Fragen, die die Machtinteressen der Politik unmittelbar berühren.“Wenn hier rekapituliert wird, was sich 1990/91 abgespielt hat, dann in der Gewissheit, dass in jeder Vergangenheit immer auch Zukunft begraben liegt. Auf den öffentlich-rechtlichen Rundfunk bezogen, heißt das: Anfang der 1990er Jahre wurde dafür Sorge getragen, in den vorhandenen ARD-Anstalten hingebungsvoll den Status quo zu pflegen und dies auf die Arbeitsweise der neuen Ostanstalten zu übertragen. Als Gewähr dafür galt die Praxis, in Dresden, Leipzig, Erfurt, Schwerin und Potsdam-Babelsberg geradezu flächendeckend westdeutsches Leitungspersonal zu etablieren, seien es Intendanten, Landesfunkhaus-, Programm- und Verwaltungsdirektoren.Diesem Schub der Eroberer hatte das Ostfernsehen in Berlin-Adlershof für immer und ewig zu weichen. Dabei wurde kein peripherer Akteur abserviert, der hinreichend geschichts- und gesichtslos war, um ohne übermäßiges Aufsehen entsorgt zu werden. Als der Deutsche Fernsehfunk Ende 1952 auf einem vorzugsweise mit Baracken bestückten Gelände seinen Sendebetrieb auf Probe wagte, bedeutete das Rang fünf unter den Fernsehpionieren des Kontinents. Es wurden in Adlershof keine umgebauten Filmateliers genutzt, sondern ein mit den Jahren wachsendes modernes Fernsehzentrum auf die grüne Wiese gesetzt. Schon 1954 ging das Experimentierstadium in einen regulären Sendebetrieb über. Die Anstalt hatte von ihrem Equipment her, dem Programmvolumen und der Personalstärke Standards zu bieten, die sich international sehen lassen konnten. Insofern war das, was 1991 mit der Abwicklung und Abschaltung geschah, ein einmaliger Vorgang, den es so in der europäischen Fernsehgeschichte noch nie gegeben hatte.Ein politisch motivierter Platzverweis, bei dem jeder Versuch der Gegenwehr nicht einmal im Ansatz auf kulturvolle Behandlung rechnen durfte. Das Ostfernsehen wie eine Schraubenfabrik dichtzumachen, das bedeutete, dem Osten kulturellen Besitzstand zu nehmen, ja, diesen geradezu vorsätzlich zu zerstören. Womit nicht zuletzt gegen den in Artikel 35 des Einigungsvertrags verankerten Grundsatz verstoßen wurde: „Die kulturelle Substanz in dem in Artikel 3 genannten Gebiet (gemeint ist die DDR – L.H.) darf keinen Schaden nehmen.“ Was Schaden nahm und verlorenging, kam nicht nur dem Osten, sondern gleichsam einer wiedervereinigten Kulturnation abhanden, aber leider nie zu Bewusstsein. Es erscheint dringend geboten, an diese Zeit des Kahlschlags zu erinnern, nicht um einer nostalgischen Versuchung zu erliegen oder weinerlicher Erbepflege Genüge zu tun. Die heutige Misere eines medialen Systems, das an sich selbst scheitert und innerlich zu zerbrechen droht, ist auch dem Triumphalismus und der Siegermentalität geschuldet, die 1990/91 die Stilllegung von Sendern und Programmen im Osten auf die Spitze trieben. Um ermessen zu können, was unter den Pflug der Liquidation kam, bietet sich eine Rückkehr in den Herbst 1989 an, als in Hörfunk und Fernsehen der DDR etwas begann, was jäh, aber nicht unerwartet enden sollte.Tränen-Party auf dem TurmBald nach seiner Amtsübernahme Ende Oktober 1990 forciert Rudolf Mühlfenzl bei DFF und Hörfunk den Personalabbau. Tausende erhalten zum Jahresende die Kündigung, um allein in Adlershof die Zahl der Mitarbeiter auf unter 7.500 zu drücken. Gleichzeitig wird eine Dienstanweisung erlassen, die es jedem unter Androhung sofortigen Rauswurfs untersagt, sich öffentlich über den eigenen Sender, denkbare Perspektiven oder eine mit Nachdruck betriebene Abwicklung zu äußern. Parallel dazu werden im Osten die Fernsehfrequenzen neu verteilt. Um dies gebührend zu zelebrieren, ist für den 15. Dezember 1990 auf dem Ostberliner Fernsehturm eine „Umschaltparty“ anberaumt, zu der auch der Autor geladen ist, um in der respektablen Höhe von 370 Metern durch ein Kaltes Büfett und einen stets wechselnden Panoramablick für den Untergang des eigenen Programms entschädigt zu werden.Die Kuppel bewegt sich seinerzeit pro Stunde einmal um den Turm. Das heißt, wer sich die „Umschaltparty“ antun will oder muss und das über Stunden hinweg, kann fünf bis sechs Runden über Berlins vorweihnachtlich angehauchter Glitzercity drehen. Selbstredend ist der Schauplatz mit Bedacht gewählt. Der Fernsehturm taugt zum Hochstand über den Jagdgründen der deutsch-deutschen Medienwelt, die zur Schau stellt, was alles an Trophäen anfallen kann. Verteilt werden diese wie üblich: Was der Westen will, nimmt er sich. So ist es zweieinhalb Monate nach dem Untergang der DDR am 3. Oktober auch mit ihrer Fernsehherrlichkeit vorbei und die Verteilung der Claims als Bescherung fällig. Wofür der Einigungsvertrag genügend Handhabe bietet, sodass Rudolf Mühlfenzl als Generalexekutor aus dem Vollen schöpfen und ARD wie ZDF mit zusätzlichen Sendefrequenzen, mit Einfluss, Jobs, Mehreinnahmen aus dem Gebührenaufkommen und der Werbung beglücken kann.Die ARD erhält den Kanal zugesprochen, auf dem bis zu diesem 15. Dezember und damit 38 Jahre lang das Erste Programm des Deutschen Fernsehfunks (DFF-1) ausgestrahlt worden ist. Dessen Frequenz kassieren, verheißt, mindestens 50 Prozent des Ostfernsehens eliminiert zu haben. Der Coup sichert der ARD eine mehr als flächendeckende Präsenz im Osten. In der westlichen und mittleren DDR, wo das Programm schon immer zu empfangen war, kann man es nun auf zwei Kanälen (!) sehen. Die bisher Unterversorgten im Lausitzer und sächsischen Revier finden sich fortan „grundversorgt“. Gegenüber dem ZDF, das im Vorfeld des Frequenz-Geschachers lauthals über Wettbewerbsverzerrungen klagt, hat sich Mühlfenzl bereits am Tag vor der ersten gesamtdeutschen Bundestagswahl vom 2. Dezember 1990 spendabel gezeigt.Die Anstalt kann von diesem Tage an auf einer dritten, bis dato nicht genutzten Sendefrequenz im Osten ausstrahlen, sodass dem Mainzer Fernsehen Omnipräsenz von Graal-Müritz bis Zittau garantiert ist. Was übrigbleibt – die Frequenz von DFF-2, des zweiten Programms aus Adlershof –, wird bei einer Gnadenfrist von maximal einem Jahr einer „DFF-Länderkette“ zuerkannt, wie Mühlfenzl in Anspielung auf das föderale Naturell öffentlichen-rechtlichen Fernsehens West die Resteverwertung Ost nennen lässt.Oder gar „todfroh“?Weil derartige Fischzüge eine gesamtdeutsche Optik brauchen, findet sich die „Turmparty“ mit Personal aus dem DFF angereichert. Frei nach dem Motto, als Brüder und Schwestern wollen wir feiern, dass euch die Totenglocken läuten. Bis es soweit ist, darf dank der großzügig in der Turmkuppel aufgereihten Monitore das laufende ARD-Programm bestaunt werden. Kurz vor dem Umschaltmoment fragt eine aufgeräumt plappernde ARD-Reporterin im „Kindchen, nun nimm es um Gotteswillen nicht so schwer“-Sound, wie denn gerade „die Stimmung“ im Adlershofer Sendezentrum so ausfalle. Fühle man sich tieftraurig oder sei man „auch ein klein wenig froh“ oder gar „todfroh“, wie sich Rudolf Mühlfenzl auszudrücken pflegt. Die schwatzhaft Arglose gerät in Studio V an die letzte Programmansagerin für „das Erste“ im DFF. Was ist das für ein Moment, wenn man gleich abgeschaltet wird, kurzes Bildrauschen, Schwarzblende – und dann peng, Schluss! Arbeitsamt oder Weiterbeschäftigung!Der Kollegin versagt die Stimme, offenbar setzt ihr die Anspruchslosigkeit der Frage mehr zu, als sie verkraften kann. Sie weint, kann nichts mehr sagen und wird ausgeblendet.Trotz des Crevetten-Cocktails, der Spargel-Spitzen und tranchierten Spanferkel in Aspik am kalten Büffet weinen ein paar Adlershofer Partygäste mit. Aber was soll man machen, die deutsche Fernseheinheit verlangt Opfer, sie kann nicht wählerisch sein, sie darf es nicht. Und bekommt man nicht mehr, als man selbst gibt? Um 19.58 Uhr ist es so weit: Die ARD „geht drauf“, der DFF ist im Bruchteil einer Sekunde ein ganzes Programm los, die stürzende Tiefe des nächtlichen Fernsehturms wirkt plötzlich recht aufdringlich.Nachdem es passiert ist, wandelt die reich beschenkte ARD-Prominenz in würdevoll gespielter Teilnahmslosigkeit zwischen den Tischen auf dem Turm dahin, schwankende West-Ost-Brücken werden selten betreten. Einsturzgefahr! Welch traumhafter Deal, allein für den Sender Freies Berlin, bis dato in zuverlässig provinzieller Manier kaum mehr als ein Stadtteilsender für Charlottenburg/Westend, aber über jeden Zweifel erhaben dank der Meriten aus dem Kalten Krieg. Der SFB wird zum Landessender Berlin aufsteigen und ganz Ostberlin als Gebührenzahler und Werbekundschaft hinzugewinnen. Was für die ARD noch wichtiger sein dürfte: Man kann die Landesanstalten West mit ihren verkrusteten Proporz-Apparaten konservieren. WDR, NDR, BR oder SDR sind als Aufbaupaten Ost gefragt. Wer sollte es wagen, während einer wahrlich „historischen Transformation“ deren Reformstau zu beklagen und dadurch womöglich die Ziele der „Herbstrevolution“ zu verraten?Die III. Programme im Westen wie die anstehenden Neugründungen im Osten, die Dreiländeranstalt MDR und der Brandenburger Miniatursender ORB – sie alle sind auf Vollzeit geeicht. Von der Grund- zur Überversorgung, koste es, was es wolle. Notfalls wird man als öffentlich-rechtliches System steigenden Finanzbedarf geltend machen, den Gebühren auf die Sprünge helfen und sich auf den Verfassungsauftrag berufen. Wer da nicht zur Wünschelrute greift und nach Finanzquellen sucht, ist selber schuld. Wen interessiert es schon, dass allein durch die DFF-Abwicklung Studiokapazitäten, Kameralager, Übertragungstechnik und sonstiges Equipment im Wert von geschätzt zwei Milliarden DM der Verschrottung entgegensehen? Weil es den ideologisch dekontaminierten Neustart im Osten geben soll, werden Funkhäuser und Fernsehateliers nebst der gebotenen technischen Ausstattung vorzugsweise auf die grüne Wiese gesetzt. Was mehr als 1,5 Milliarden DM an Investitionen verschlingt – anfallende Personal- und Produktionskosten nicht mitgerechnet.„Verrat an den Zielen der Herbstrevolution“Kurz vor Mitternacht plätschert die „Turm- und Tränenparty“ dahin wie der Wildbach am Forellenhof, dem einstigen ARD-Straßenfeger für die Schmachtfolklore der Vorruheständler am Sonntagnachmittag. DFF-Intendant Michael Albrecht setzt sich zu den eigenen Leuten, um Trost zu spenden und Zuversicht zu verbreiten. Das Fernsehen im Osten habe mit diesem Abend mehr gewonnen als verloren, man sei keine Fernsehkolonie, sondern Kooperationspartner. So viel gut gemeinte oder blinde Verklärung ruft im Gedächtnis die Rubrik Erfahrenes und Erlebtes auf den Plan. Im Februar 1990 redeten die ARD-aktuell-Chefredakteure Henning Röhl und Heiko Engelkes bei einem Besuch in Adlershof tatsächlich einer fairen, vorurteilsfreien Kooperation das Wort. Postwendend war DFF-Nachrichtenchef Klaus Schickhelm zur Tagesschau nach Hamburg gereist, wo die 20-Uhr-Sendung gar mit einem 45-Sekunden-Clip davon Notiz nahm und zeigte, wie Schickhelm auf dem Allerheiligsten – dem Sprecherplatz von Dagmar Berghoff – sitzen durfte. Auf eine vielversprechende Annäherung folgte das mehr als eindeutige Abkanzeln, als mit der heraufziehenden Einheit die Zerschlagung von Hörfunk und Fernsehen der DDR als beschlossene Sache galt. Kein Jahr nach seinem Adlershof-Trip beeilte sich Röhl, die dortige Aktuell-Redaktion als „Verrat an den Zielen der Herbstrevolution von 1989“ zu schmähen, obwohl sie mit der Aktuellen Kamera von einst und deren längst abgelöster Chefredaktion nichts mehr zu tun hatte.Als die „Umschalt-Party“ ausgestanden ist, hat auch der Fernsehturm überstanden, was ihm zugemutet war. In den nächsten Jahren wird ringsherum die große Flurbereinigung einsetzen und die City Ost Stück für Stück verschwinden, das Palasthotel, das Außenministerium, das Ahornblatt am Spittelmarkt, der Palast der Republik, das Haus der Gesundheit, das Stadion der Weltjugend. Aus, vorbei, nie wieder.Ferdi und die FilterzigaretteEine eindrucksvolle Episode für das teils kafkaeske Gebaren des Rundfunkbeauftragten und seines Stabes ist im Juni 1991 der Rauswurf des stellvertretenden Hörfunk-Intendanten Jörg Hildebrandt. Eine zeitgenössische Variante der zeitlosen Erfahrung, dass „Revolutionen“ – ob sie den Namen nun verdienen oder nicht – ihrer Protagonisten irgendwann überdrüssig werden und sie fressen, als seien es deren nichtsnutzige Kinder. Der „Fall Hildebrandt“ eignet sich zum Anschauungsunterricht, um vorzuführen, wie die Abwickler West mit dem Personal Ost verfuhren, das mit dem Herbst 1989 in Erscheinung trat und Verantwortung übernahm, aber mittlerweile zum Störfaktor wurde, dessen man sich gern entledigte. Besonders dann, wenn der Betreffende weiter auf Werte setzen wollte, ohne die es den Umbruch in der DDR nicht gegeben hätte.Der Verlagslektor Jörg Hildebrandt gründete im Frühherbst 1989 zusammen mit dem Kirchenhistoriker Wolfgang Ullmann die Bürgerrechtsorganisation „Demokratie Jetzt“. Bis dahin war er der Evangelischen Kirche zugetan, aber zu keiner Zeit Sympathisant oder Mitglied der CDU-Ost, einer willigen Blockpartei, die der SED stets zu Diensten blieb. Ende 1989 dann trieb Hildebrandt die Demokratisierung in den DDR-Medien voran und empfahl sich für die Leitung eines erneuerten Hörfunks.Am 21. Mai 1991 ist das alles Schall und Rauch, nichts zählt mehr, nichts geht mehr – Rudolf Mühlfenzl feuert den in Ungnade Gefallenen fristlos. Hildebrandt habe „zum dritten Mal in schwerwiegender Weise gegen seine dienstvertragliche Treuepflicht verstoßen“, steht im Kündigungsschreiben. Als einer, dem Anstand und Gewissen etwas bedeuten, hat sich Hildebrandt mehrfach gegen „Dienstanweisungen“ verwahrt, die es Mitarbeitern des DFF wie des Hörfunks untersagen, sich öffentlich über ihre Anstalten zu äußern. Als Errungenschaft des „Wendeherbstes“ gefeiert, ist das Recht auf innerbetriebliche Meinungsfreiheit und demokratische Kontrolle von Führungspersonal unter Mühlfenzl als Anmaßung verschrieen. Wer sich darauf beruft, landet schnell auf der Straße. Jörg Hildebrandt bleibt diese Erfahrung nicht erspart, als er an der Seriosität eines Umschulungsprogramms zweifelt, für das der Rundfunkbeauftragte nicht nur Gelder der Bundesanstalt für Arbeit ausgeben will, sondern einen CDU-Spezi wie den Ex-Bundestagsabgeordneten Ferdi Breidbach anheuert, inzwischen PR-Manager des Tabakkonzerns Philip Morris.Der schreitet forsch zur Tat, um sich bei einer Pressekonferenz in der Nalepastraße der Leuchtkraft eines Overheadprojektors, eines lindgrünen Glitzer-Sakkos wie der Botschaft anzuvertrauen: Masken- und Kostümbildner, Cutterinnen, Redakteure, Kameraleute oder Tonmeister der todgeweihten Medienhäuser Ost dürften auf ein erfülltes Dasein als Versicherungsvertreter, Reisekaufleute, Versicherungsagenten, Steuerberater oder Öffentlichkeitsarbeiter hoffen. Zur Schmach von Abwicklung und drohender Arbeitslosigkeit gesellt sich Hohn. „Damit wir alle gedanklich auf einem Level sind“, verkündet Breidbach zwischen zwei Zügen an einer Philip Morris Light American, betone er, das Beste für die „kritische Masse“ der über 50-Jährigen herausholen zu wollen, aus denen sich „leider keine PR-Junior-Berater“ mehr machen ließen. Zunächst seien Basics vonnöten, „die Vermittlung fremdsprachlicher Begriffe wie ,Recherche‘ und ,Rhetorik‘“ zum Beispiel. Der Landschaftspfleger West in der Bildungsbrache Ost mag die Frage nicht, weshalb sich bei solch fescher Agenda bis dahin nur 80 Ex-Mitarbeiter von Hörfunk und Fernsehen für seine „riesige Schule“ mit 100 Klassen à 25 erwärmt haben. Dabei kann Breidbach ideologisch vernagelten Ostjournalisten beibringen, was ein mit der Wirtschaft verwachsener Medienmacher braucht, um als Lobbyist zu reüssieren. „Schnellkurse“ von lediglich zwei Monaten Dauer soll es für die Umschüler geben, was Skepsis und Misstrauen erst recht wachsen lässt. Breidbach muss einräumen, es handle sich „um einen bedauerlichen Tippfehler“, sechs Monate seien gemeint. Wie ein solcher „Tippfehler“ zum offiziellen Sprachgebrauch der Mühlfenzl-Entourage werden und in deren Informationsbulletins auftauchen konnte, bleibt für immer ungeklärt.In einem Brief an den Personalrat des Hörfunks vom 30. April 1991 nennt Jörg Hildebrandt das Umschulungsprogramm „eine vordergründige, nur auf öffentliche Beruhigung bedachte Maßnahme“. Dem „extra für diese Aufgabe angeforderten Berater Breidbach“ fehle es an Fachwissen, stattdessen beabsichtige er, „persönlichen Gewinn zu erzielen“. Im Stab Mühlfenzl, dem Bunkerneurosen mitten in Ostberlin nicht fremd sind, liegen prompt die Nerven blank, zumal die Personalräte des DFF beklagen, dass Breidbach mit ihrer Betriebsakademie weder kooperieren noch Verträge mit bereits tätigen Bildungsträgern verlängern wolle. Womit offenbar wird, wie gerechtfertigt Hildebrandts Einwände und Einsprüche sind. Dennoch muss er seinen Platz räumen. Es gilt, ein Exempel zu statuieren.Totgeschwiegene sind länger totWas wird bleiben vom Fernsehen in Adlershof an der Peripherie Ostberlins, wenn es nicht mehr sendet? Ich frage das Mitte Dezember 1991 den letzten, nunmehr scheidenden DFF-Intendanten Michael Albrecht in einem Interview, das für die zweistündige Chronik Ostfernsehen geführt wird. Den Rückblick als Bilanz und Credo nimmt die „Länderkette“ am 29. und 30. Dezember 1991 ins Programm, damit Adlershof nicht allzu sang- und klanglose abdankt. Dieses Fernsehen sei schon so etwas wie eine „Ideologiefabrik“ gewesen, aber eben nicht nur das, meint Albrecht, der sein Büro in wenigen Tagen für immer räumen muss. „Es wurde hier in Adlershof sehr viel Programm produziert. Es sind kulturelle Werte geschaffen worden, in Form von Filmen und Fernsehspielen, von Sendungen und Programmen. Ja, was wird davon bleiben? Auf jeden Fall ein großes Archiv – das ist, glaube ich, so etwas wie der Schmelztiegel der Leute, die hier irgendwann einmal gearbeitet haben. In diesem Archiv gibt es tolle Sendungen, die man immer wieder gern sehen wird. Und es gibt viel Böses, was man auch deutlich sagen muss. Wenn man ein klein wenig Abstand hat, vielleicht schon in zwei oder drei Jahren, wenn der Blick wieder etwas klarer sein wird, lässt sich das vermutlich erst richtig begreifen.“Was Albrecht hofft, erfüllt sich nicht. Dem DFF wird auch posthum keinerlei Gerechtigkeit zuteil. Totgeschwiegene sind länger tot. Es sei denn, der Rückgriff auf Fernsehspiele, Unterhaltungskonserven und beliebte DFF-Serien wie Polizeiruf 110, Zur See oder Rentner haben niemals Zeit, mit denen die III. Programme der ARD gratis ihre Sendezeit füllen, sind ein Eingeständnis.Das letzte Live-Programm aus Adlershof geht am Abend des 31. Dezember 1991 über den Sender. Den Tag über entladen sich im einzig noch betriebenen Sendekomplex S 5A Empörung und Verzweiflung. Ein Sturm der Wut tobt durch die Gebäude von Nachrichtenredaktion und -studio.Scherbengericht zum SchlussDie leeren Spulen Dutzender Videobänder knallen wie Bowlingkugeln an Türen und Wände oder sind auf riskanter Schussfahrt durchs Treppenhaus. Bandsalat liegt herum. Man könnte hindurch waten, würde aber Gefahr laufen, sich in den Video-Lianen am Boden zu verfangen. Wie ausgeweidet liegen Teile des Archivs, des historischen Gedächtnisses einer Nachrichtensendung, herum, die jahrzehntelang als Aktuelle Kamera und seit 1990 als Aktuell, ausgestrahlt worden ist, dazwischen liegen eine Zeiten- und Systemwende. Als sich der Aufruhr am frühen Abend gelegt hat, kann auch die Nachrichtenabteilung ihren Abwicklungsschrott vorweisen, wie er sich sonst auf dem Fernsehgelände türmt, seien es ausgeweidete Übertragungswagen, die Reste von Studio-und Büroinventar oder Berge von Filmbüchsen.Wer hat in S 5A randaliert? Waren es Techniker, Cutter, Dispatcher, zumeist jüngere Kollegen um die 30? Oder erboste Redakteure? Warum dieses Scherbengericht, das anmutet wie ein Tritt ins eigene Spiegelbild? Vom Aufstand in den Fluren blieben auch die Wände nicht verschont. Was da in schwarzer und grell roter Farbe gepinselt steht, liest sich als „AUS“ und „RAUS“ und „AUSVERKAUF“. Die Brust wird eng vom Wort, das man nicht sagt. Locker die Arme vor Tatenzwang.Ich gehöre hierher, habe bis zum Schluss das Spätjournal moderiert und bin gekommen, um wie alle, die sich das nicht ersparen wollen, Abschied zu nehmen von einem Dasein in Adlershof, das mehr war als ein Arbeitsleben. Gut 30 Jahre danach sind die Eindrücke jener Stunden zu flüchtigen Reminiszenzen geschmolzen, fast vergessen oder zuverlässig verdrängt. Dem Gedächtnis auf die Sprünge zu helfen, kann heißen, einem Flash bedrängender Szenen ausgesetzt zu sein. Einmal aufgetaucht, sinken sie nicht so schnell wieder hinab ins Gewahrsam des schwer Auffindbaren.Um sich an die Tatsachen zu halten: Am 31. Dezember 1991 sind die Abendnachrichten von 19.30 Uhr die letzte Livesendung des Deutschen Fernsehfunks, 19.55 Uhr folgt noch der Sport mit der Vorschau auf das Neujahrsskispringen in Garmisch-Partenkirchen, zum Schluss das Wetter. Was bis Mitternacht, bis zur Abschaltung, gesendet wird, sind Aufzeichnungen. Das Neujahrsprogramm des Berliner Kabaretts Die Distel, dazwischen viel Tanz auf der Revuetreppe, passend zum letzten Tanz in Adlershof, und das Silvestervergnügen aus der Rostocker Hafenbar. Hat Kuddeldaddeldu um Mitternacht ausspielt, hat das Ostfernsehen ausgesorgt.Mühlfenzls allerletzte KlappeRudolf Mühlfenzl lässt sich an jenem verregneten Silverstertag, als dem DFF die Stunde schlägt, mit einer Filmklappe im Schoß fotografieren. Darauf steht: „DFF – die Letzte“. Der Generalgouverneur für die Abwicklung des Ostfunks und der Ostfunker sitzt für dieses bemerkenswerte Motiv nicht an seinem Schreibtisch, sondern vor einer Monitorwand. Die Optik pendelt zwischen einem Anflug von Selbstironie und dem heftigen Geltungsbedürfnis des beuteverwöhnten Waidmanns. Während seiner 15 Amtsmonate hat sich Mühlfenzl zuweilen barmendem Selbstmitleid überlassen. Die Drecksarbeit eines Vollstreckers müsse er übernehmen, sich unablässig Feinde machen, Ächtung und Schmach ertragen. Nun aber ist alles überstanden und das Werk vollbracht. Die allerletzte Klappe im Schoß bezeugt Tapferkeit vor dem Feind. Dem erlegten Wild einen Fuß auf den noch warmen Leib – das ist der Jäger Brauch. Und kann sich nicht sehen lassen, was zur Strecke gebracht worden ist, ein wenig grobschlächtig zwar, aber gründlich?39 Jahre und zehn Tage, seit dem 21. Dezember 1952, wurde in Adlershof, später ebenso den Filialen Johannisthal (Fernsehspiel) und Grünau (Unterhaltung) Programm produziert. Dank des Werbevertrages mit der französischen Firma IP durfte das Ostfernsehen den verschollenen Staat um mehr als ein Jahr überleben. An den magischen 40 Jahren fehlen elf Monate, als der eiserne Vorhang fällt. Bis es soweit ist, herrscht an Gnadengesuchen kein Mangel. Als eine Empfehlung gilt der frappierende Akzeptanzsprung seit Herbst 1989. Die Aktuelle Kamera verzeichnet Einschaltquoten um die 30 bis 35 Prozent, mit dem Spitzenwert 62,6 am 8. Dezember 1989, als in der Nacht zuvor ein Sonderkongress der SED die Partei in SED-PDS umbenannte und Gregor Gysi zum neuen Vorsitzenden wählte. War die Zuschauerreaktion ein Beleg dafür, dass in der strauchelnden DDR eine sozialistische Partei noch nicht als Auslaufmodell galt?Wie die Messungen der GfK-Fernsehforschung in Nürnberg bestätigen, ändert sich am Zuspruch für das Adlershofer Programm über das Jahr 1990 hinweg nicht viel. Allein in den Wochen vor der Volkskammerwahl am 18. März gibt es für die Nachrichtensendungen Einschaltquoten zwischen 28 und 42 Prozent, in absoluten Zahlen 3,6 bis 5,5 Millionen Zuschauer. Auf eine ähnliche Resonanz stößt im I. Programm das erwähnte Donnerstagsgespräch mit einer Sehbeteiligung von im Schnitt 29 Prozent (3,6 Millionen Zuschauer). Diese und andere Sendeleistungen werden mit einem schrumpfenden Personal erbracht, als Adlershof eine Entlassungswelle nach der anderen trifft. Ende 1990 sind von den ehemals 10.000 Beschäftigten noch gut 7.000 geblieben, Mitte 1991 dürfen noch knapp 5.000 weiterarbeiten, im September 1991 erfolgt die Kündigung für die letzten 3.900 Kolleginnen und Kollegen zum 31. Dezember 1991.Anfang 1991 stellen die Demoskopen von Infas & Partner den Ostdeutschen die Frage: Welche Fernsehstation bietet Ihnen die beste Orientierungshilfe, wenn sich Lebens- und Arbeitsverhältnisse so fundamental ändern, wie das gerade in Ihrem Umfeld passiert? Dem ZDF bescheinigen das 15, der ARD 26 und dem DFF 29 Prozent. Ein Vertrauensbonus für Adlershof, der dem Sender nicht unbedingt von Vorteil gereicht, weil es eine mögliche mediale Gegenwehr andeutet, wenn das segensreiche Wirken der Treuhand im Osten zum industriellen Kahlschlag und zu Massenentlassungen führt. Pluralität zu proklamieren, bedeutet in der ARD bekanntlich nicht, sie auch zu praktizieren, wie sich das 2022 in einer uniformen Ukraine-Russland- oder China-Berichterstattung niederschlägt.Gut vier Wochen nach der letzten Sendenacht zum 1. Januar 1992 bin ich noch einmal in Adlershof, um für einen Dokumentarfilm über das nunmehr eingestellte Spätjournal interviewt zu werden. Am Einlass zum Sender ist der rot-weiße Schlagbaum noch da und stellt seine Immunität gegen Systemwechsel aus. Der Aufruf, den Schwarzen Kanal zu schließen, damit die beiden Fernsehkanäle bitteschön bleiben, ist verschwunden. Wer weiß, wo er hing, der kann die vier Klebestellen an einer Säule zuordnen.Auf dem Parkplatz vor der „Wanne“ mit der Sendeabwicklung links, dem einstigen Mitarbeiterbistro in der Mitte und der Nachrichtenredaktion wie dem Studio S 5A im rechten Seitenflügel ist noch die Parkordnung markiert. „Aktuell“, „Programm“ und „Sport“ steht in weißer Farbe auf schwarzgrauem Asphalt. Leere Fenster blicken von oben herab auf die verwaiste Fläche, als wollten sie jeden Zweifel an der vorübergehenden oder immerwährenden Nutzlosigkeit von Bauten zerstreuen, die nach dem Sendestart des DFF Ende 1952 mit als erste errichtet wurden.Anfangs spielte im späteren Nachrichtenstudio das Fernsehtheater Lessing, Büchner und Brecht, Erwin Strittmatter und Max Frisch. Es gab noch keine Aufzeichnungen, nur Livesendungen mit allen Unwägbarkeiten, die sich durch den Umbau des Bühnenbildes, die Beleuchtungs- und Kostümwechsel wie eine Handvoll Zuschauer ergaben, denen man eine kleine Empore gebaut hatte. Zum Jahreswechsel 1952/53 las hier der Schauspieler Eduard von Winterstein aus Lessings Nathan der Weise. Getreu der Becher-Hymne mit ihrem „Deutschland, einig Vaterland“ galt der frühen DDR die Einheit der Kulturnation als hohes Gut, was sich später änderte.Laubsäge-Arbeiten in Holz und FurnierInzwischen habe ich die „Wanne“ durchquert und stehe vor einem Gebäudetrakt, in dem die Auslandsredaktion untergebracht war. Ringsherum liegen in Matsch und Neuschnee Schreibtische, Stühle, Sessel, Schränke, Regale und wieder jede Menge Filmbüchsen. Offenbar hat ein Räumkommando seine Runde und kurzen Prozess gemacht. Auch beim Umgang mit Volksvermögen im Osten gilt das Prinzip: Nichts darf bleiben, wie es war. In der Senderegie des einstigen Nachrichtenstudios sind die Pulte für den Ton- und Bildschnitt ausgeschlachtet. Die verbliebenen Aussparungen wirken wie Laubsäge-Arbeiten in Holz und Furnier. Allein die Tasten der Telefone leuchten erstaunlicherweise weiterhin einsatzfreudig.Über den Monitoren, auf denen einst die Vorschaubilder der Bandmaschinen oder zugeschalteter Korrespondenten und der internationale News-Austauschs anlagen, rückt der Sekundenzeiger einer Wanduhr lautlos, aber beharrlich über das Ziffernblatt. So viel wurde angehalten und abgeschaltet, die Zeit nicht.
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