Das Manson-Syndrom

True Crime Für Amerika ist Charles Manson das Böse schlechthin – basta! Aber hat es sich damit? Ein Blick auf einen Fall voller loser Enden

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Wer war Charles Manson?
Wer war Charles Manson?

Foto: r2hox from Madrid, Spain/Wikimedia (CC 2.0)

Wer war Charles Manson? Die Frage erscheint müßig, denn: Selbst bei Medien mit seriösem Anspruch sprudeln die Auskünfte zuverlässig und regelmäßig – seit den anlassgebenden Tate-La Bianca-Morden im August 1969. Leider ist das Gros davon stark simplifizierend. Entsprechend dem Motto, dass Sex & Crime die besten Auflagengaranten sind, bot auch das fünfzigjährige Jubiliäum genug Anlass, einen der spektakulärsten Kriminalfälle der jüngeren Geschichte aus den Redaktionsarchiven hervorzukramen und ihn in geeigneter Form neu zusammenzupuzzeln. Allen anderen dabei die Show gestohlen hat vermutlich Erfolgsregisseur Quentin Tarantino. Sein – ziemlich punktgenau auf das makabre Jubiläum hin getimetes – Abgesangsepos »Once Upton A Time In … Hollywood« mag im Mittelteil zwar ein stimmiges, in den Details gut ausrecherchiertes Spotlight der Manson-Family zeichnen. Im Gesamten gesehen ist der Film allerdings das, was von Tarantino zu erwarten war: ein durch die rosarote Brille betrachtetes Sittenbild der Filmszene Ende der Sechziger.

Verkürzter Mythos

Da nicht nur ein historienaffiner Maestro wie Tarantino seine eigenen Zutaten in die Jubiläumsbowle hineinrührt, stellt sich die Frage: Was beinhaltet der Mix, der zu Charles Manson serviert wird, genau? Wie die meisten Mythen gliedert er sich in zwei Teile: Fakten und Ideologie. Auch beim Thema Manson ist die faktische Hardware die unabdingbare Pflicht, hinter der erst die Kür kommen darf. Der gängigen Geschichtsschreibung zufolge scharte der Ex-Knacki Charles Manson im Sommer der Liebe eine Truppe sexuell und auch sonstwie williger Anhänger(innen) um sich. Diese Jünger(innen) schickte er bald darauf aus, um wahllos Prominente zu ermorden. Der mit der nötigen Charismatik ausgestattete Sekten-Anführer und seine Spießgesell(inn)en konnten jedoch nach vergleichsweise kurzer Zeit dingfest gemacht werden. Die daraufhin Angeklagten profitierten einerseits zwar von der zeitweiligen Aufhebung der Todesstrafe in Kalifornien. Teilweise sind sie jedoch – da lässt der amerikanische Staat nicht mit sich spaßen – noch immer inhaftiert. Sektenführer Manson widerum flirtete im Verlauf seiner Knastkarriere zeitweilig mit ganz Rechtsaußen, gab hunderte von Interviews, in denen er seine Weltanschauung darlegte und verstarb schließlich im November 2017.

Hinzu treten – als Part Two – die unabkömmlichen Interpretationen, quasi der Basic-Narrativ des Ganzen. Der lautet ungefähr folgendermaßen: Weil Manson und seine Gruppe ein mehr oder weniger integraler (wenn auch ein wenig absonderlicher) Bestandteil der Flowerpower- und Hippie-Kultur waren, läuteten die Morde der Gruppe das Ende der Bewegung ein. Die Interpretations-Spannbreite, die daraus folgt, hat für jeden Geschmack etwas parat: für das liberale Amerika halbgares Bedauern über den Tod seiner Love-and-Peace-Träume, für die US-Konservativen den Beweis, dass die Counter Culture eine hochsuspekte Angelegenheit war, für ehemalige Gegenkultur-Aktivisten den Vorwurf des Verrats sowie der Pervertierung der sonst reinen, umbefleckten Ideale, für die Popmusik-Fraktion die Gelegenheit zu wohlfeilen Provokationsgesten (exponiertestes Beispiel: der Schockrocker Marilyn Manson) und für die radikale Rechte ein frühes Vorbild. Für die Szene der Verschwörungstheoretiker schließlich bietet der Fall einen nie versiegenden Pool mehr oder weniger abstruser Mutmaßungen. Kostprobe? Manson im Knast ist nicht Manson. Die Family-Frauen auf den Fotos sind nicht die Family-Frauen. Die Tatort-Fotos sind gestellt. Manson war ein »Patsy« – ein Opferlamm ähnlich wie Harvey Lee Oswald. Die Mafia steckt dahinter. Der CIA steckt dahinter. Die Regierung steckt dahinter. Die Verbindungen zur Zodiac-Mordserie werden verschwiegen. – Mehr davon finden Sie im Internet Ihres Vertrauens.

Aufklärung, oder: die hundert Facetten des Falls

Ein wesentlicher Grund für die florierenden Mythen ist der Umstand, dass der Fall vergleichsweise komplex gelagert ist. Hineingewuselt in ihn haben sich im wesentlichen zwei Autoren: a) Ed Sanders, Ex-Mitglied der satirisch-politischen Rockgruppe The Fugs, Ex-Beatnik und maßgebendes Mitglied der seinerzeitigen Counter Culture, b) Vincent Bugliosi, der im Fall ermittelnde Staatsanwalt. Insbesondere Bugliosi liefert mit »Helter Skelter« (deutscher Untertitel: »Der Mordrausch des Charles Manson«) eine Detail-vollgepackte Chronik des Falls. Ed Sanders steht ihm in der Beziehung kaum nach. Sein – 1972 von Rowohlt für den deutschsprachigen Markt verlegter – Titel »The Family. Die Geschichte von Charles Manson und seiner Strand-Buggy-Bande« ist gleichfalls detailgesättigt bis zum Abwinken. Beide Bücher – geschrieben während und unmittelbar nach dem Manson-Prozess 1970/71 – gelten bis heute als Eichmarke, als Standard in der »seriösen« Manson-Forschung. Ansonsten ergänzen sie sich vortrefflich. Wo Bugliosi etwa – nicht ohne die eigene Rolle angemessen ins Scheinwerferlicht zu rücken – den Blickwinkel des abgeklärten Kriminalen hervorkehrt und die minutiöse Geschichte eines Verbrechens-Falls zelebriert, interessiert Sanders mehr die Frage: Wie konnte es dazu kommen? Wie hat sich die Geschichte zu ihrem Ende hin entwickelt?

Polizeinaher True Crime hier, engagierter New Journalism da – eine Spannbreite, die allen Lagern Genüge tun sollte. Nichtsdestotrotz: Wer sich ins Detailgestrüpp jener Ereignisse hineinbegibt, welche den Rechtsschwenk der Siebziger und Achtziger mit auslösten, tut gut daran, sowohl Sanders als auch Bugliosi ein Stück weit zu mißtrauen. Bei Sanders ist es insbesondere der Tenor des aufrecht Empörten, welcher in seiner Schilderung stetig mitschwingt – der Gestus des Subkultur-Angehörigen, der den Verrat an den Idealen geiselt und deswegen quasi gezwungen ist, die behandelten Personen als besonders verkommene Subjekte hinzustellen. Mit Bugliosis »Helter Skelter«-Darstellung hingegen ist vor allem jener Teil des interessierten Publikums auf der sicheren Seite, der schon immer wußte, dass sowas von sowas kommt. Wirklich vorzuhalten (falls »Vorhaltung« hier der richtige Begriff ist) wäre den beiden Standardwerken allerdings, dass es DEN neutralen, absolut objektiven »Point of View« bei dieser Geschichte eben nicht gibt – und auch nicht geben kann. Das gilt nicht nur für die zahllosen Verästelungen, welche für den Manson-Fall typisch sind (vergleichbar hier ähnlich prominenten Kriminalfällen wie dem Kennedy-Mord, dem an Martin Luther King oder auch dem 11. September). Die breitgetretenen Nebensächlichkeiten sind bei Sanders und Bugliosi letztlich ebenso beredsam wie die Dinge, die sie auf eine eher wortkarge Weise abmeiern oder gar ganz auslassen. Anders gesagt: Im Fall Manson hat letztlich alles mit allem zu tun.

Der Grund für den unendlichen Faktensalat: Letztendlich gibt es in der »Causa Manson« nicht nur einen »Point of View«, sondern – allermindestens – mehrere Dutzend. Ein interessanter, chronisch unterbelichteter String dabei ist Mansons gescheiterte Karriere als Singer-Songwriter. arte hat sie jüngst in einer bemerkenswerten Dokumentation thematisiert. Auch wenn die Produktion »Manson: Music from a Unsound Mind« ein vergleichsweise schönfärberisches Bild des selbsternannten Sekten-Gurus liefert, enthält sie doch einige Aspekte, welche für das Verständnis des Gesamtkomplexes erhellend sind. Wesentlicher Punkt: Etablierte Musikszene und die desparate Szene um Manson hockten weitaus intensiver aufeinander, als es die handelsüblichen Kurzdarstellungen nahelegen. Hauptfiguren hier: Beach-Boy Dennis Wilson und der einflussreiche Produzent Terry Melcher, Sohn der Hollywood-Ikone Doris Day. Sowohl Wilson als auch Melcher begaben sich mit Manson und den Seinen in ein Spiel von Anziehung, Hoffnungen und uneingelösten Versprechen, dass zwangsläufig irgendeine Auswirkung haben mußte.

Hippies, Dolce Vita & True Crime

Wie nah Manson daran war, als hoffnungsvoller Popstar zu reussieren, zeigt eine Vielzahl von Ereignissen und Kontakten, die zwischen 1967 und dem verhängnisvollen August zwei Jahre später stattfanden: aufgenommene Probebänder, gemeinsames Abhängen, Gefälligkeiten, Geld- und Sachzuwendungen, Verhandlungen um ein Album respektive einen Dokumentarfilm über die Hippie-Szene. Im Wissen um die Nachgeschichte kann man dabei leicht dem Narrativ verfallen, dass Manson als Künstler nicht genügend Substanz aufgewiesen habe. Gegen diese These spricht allerdings der Umstand, dass Dennis Wilson sich Mansons Song »Cease To Exit« ungefragt unter den Nagel riss und, textlich entschärft, als Beach-Boys-Nummer unter dem Titel »Never Learn Not To Love« herausbrachte. Auch Mansons Originalaufnahmen – 1971 veröffentlicht auf einer LP, deren Erlöse großteils dem Zweck bestimmt waren, die anlaufenden Prozesskosten zu finanzieren – klingen allenfalls aufgrund des Wissens über das »Danach« degoutant, »böse« oder eben handwerklich mißraten. Unvoreingenommen betrachtet vermitteln sie – was immer sie sonst vermitteln mögen – eine düstere Tiefe, die vielleicht stärker vom American Gothic früherer amerikanischer Tiefenschichten angehaucht ist als andere Produktionen der Sechziger-Subkultur. Fazit hier: Vom prononcierten Nihilismus der Texte einmal abgesehen, entsprechen Mansons Ausflüge ins Singer-Songwriter-Metier voll dem Common Sense, der im »progressiven« Teil der damaligen Popmusik en vogue war.

Über die musikalisch-persönlichen Enttäuschungen hinaus führen weitere bedeutsame Wegesmarken zu den Morden der Sekte. Zumindest beim Tate-Mord liegen die Parallelen auf der Hand. Die Tatort-Villa, in der sich Roman Polanski und seine Ehefrau kurz zuvor eingemietet hatten, hatte einen fallrelevanten Vormieter: Terry Melcher – der Musikproduzent, mit dem sich Manson überworfen hatte. Die Verbindungen der »Family« in die Musikszene waren darüber hinaus dermaßen gravierend, dass Vincent Bugliosi die Absicht hegte, auch gegen Wilson, Melcher sowie dessen damalige Ehefrau, die Filmschauspielerin Candice Bergen, Anklage zu erheben. (Pointe dabei: In dem subkultur-affinen Konglomerat aus Rockmusik & Irrsinn war Bergen – jedenfalls laut Sanders – eine der wenigen, welche die Manson-Truppe früh auf Abstand hielt.) Für die ziemlich unsatanische Theorie »Racheakt aufgrund Zurückweisung durch die Hollywood-Elite« spricht auch der Umstand, dass die »Happy People« aus Rock und Film enge Verbindungen zueinander pflegten. Sanders beispielsweise deutet in seinem Buch ein mutmaßliches Treffen an, dass wenige Tage vor den Morden im Esalen Institute in Big Sur stattgefunden habe, und in das neben Manson, der dort war, auch Mitglieder des Polanski-Tate-Umfelds involviert gewesen seien. Gegenstand des Aufeinandertreffens: Manson in Bezug auf seine Musik-Ambitionen (und seine Nachstellereien) endgültig die Rote Karte zu zeigen.

Die Esalen-Institute-Episode – zusammen mit anderen Fallverästelungen in diesem längeren Text kritisch aufbereitet – ist sicher nur ein kleines Puzzleteilchen. Darüber hinaus ist nicht zweifelsfrei verifiziert, ob diese – aus Mansons Blickwinkel sicher finale – Zuspitzung überhaupt stattgefunden hat. Ein wichtiger, für die Nach-Beurteilung der Ereignisse relevanter Punkt allerdings ist, dass der Flirt zwischen der High-Society-Oberwelt und dem von Manson repräsentierten Rand der Hippie-Szene weitaus beständiger war, als offizielle Darstellungen es nahelegen. Oberflächlich gesehen spricht dies exakt für jenen Narrativ, der im Gefolge der Fälle von der US-amerikanischen Rechten aufgegriffen wurde – und der ungefähr besagt, dass das ausschweifungsfreudige Dolce vita der Prominenz und der hedonistisch-existenzialistische Habitus der Subkultur zwei Seiten derselben Medaille seien. Zugespitzte Schlussfolgerung auf dieser Seite des politischen Grabens: Hippies, Antikriegs- und Bürgerrechtsbewegung haben Amerika kaputtgemacht. Im Lauf der Jahrzehnte (etwas) in den Hintergrund getreten, gehörte diese Variante des Anti-68er-Kampfs noch in den Siebzigern zum argumentativen Grundbesteck der konservativen Rechten. Was – möglicherweise – ein Grund dafür ist, dass die liberale Prominentenszene eher bedacht war, ihre eigene Nähe zu den Flowerpower-angehauchten Desperados aus Mansons Umfeld tunlichst unter den Teppich zu kehren beziehungsweise als unbedeutend hinzustellen.

Auf eine ehrlichere, selbstkritischere Weise beschreibt auch Ed Sanders diese Zusammenhänge. Fakt ist, dass die Flower-Power-Gegenkultur an der kalifornischen Westküste bereits recht früh an einem Punkt angelangte, an dem sie aus rein ökonomischen Gründen zu zerschellen drohte. Die vielen Ad-hoc-Kommunen und Absteigemöglichkeiten, die Sanders beschreibt, waren nicht zuletzt auch ein Versuch, die diversen Engpässe zu lösen, welche sich aus dem rapide wachsenden Zuzug Love-and-Peace-Begeisterter ergaben. Ebenfalls nicht ganz unüberraschende Begleiterscheinungen waren die »Auswüchse«, welche sich aus ebendieser Konstellation ergaben: Drogenprobleme, Kleinkriminalität, die um sich greifende Schnorrerei sowie schließlich die härteren Kaliber: Biker-Gruppen sowie Sekten der Scientology- und Satanisten-Machart, die in diesen Pool hineinstießen und von denen die Manson-Gruppe lediglich eine besonders schillernde Variante war. Positiv formuliert: A la longue schuf die Gegenkultur vor allem da Konstruktives, wo es ihr gelang, Strukturen aufzubauen – Strukturen, die auf Nachhaltigkeit und politisches Engagement ausgelegt waren anstatt auf Weltuntergang und einen diffusen Kult des »Bösen«.

Ein mit dem Problem Geldbeschaffung zusammenhängendes Kaliber sind diverse Verbindungen des Falls hinein in die Bereiche Drogenkriminalität und Organisiertes Verbrechen. Leno La Bianca hatte – mutmaßlich – Schulden bei einem halbweltbekannten Buchmacher. Sanders und Bugliosi zufolge weisen weitere Spuren in Richtung regionaler Mob-Ableger. Noch tiefer verstrickt in die Halb- und Unterwelt des Drogenhandels war – so jedenfalls die Indizienketten der Fall-Experten – der in der Tate-Villa ermordete Nachwuchsschauspieler Wojciech Frykowski. Insgesamt übt der Fluss des Geldes innerhalb des ganzen Komplexes eine nicht weniger makabre Faszination aus als die bizarre Gewalttätigkeit, die schließlich für die publicityträchtigen Schlagzeilen sorgte. Nur wenig simplifiziert könnte man das dazugehörige Bild als Dreieck zeichnen – mit den drei Eckpunkten Society, Manson-Clan und Unterwelt. Mit das größte Faszinosum ist die Geld-Ökonomie der Endzeit-Kommune selbst. Einerseits lebten Manson und seine Anhänger(inn)en in einer Kargheit, für die der heutige Begriff »prekär« geradezu beschönigend ist. Andererseits waren die Einkünfte derart ersprießlich, dass die Sekte x-Zehntausend US-Dollar in ihr paranoides Endzeit-Equipment steckte. Inklusive eines mit einer Strandbuggy-Flotte ausgestatteten Rückzugsorts im Death Valley – dem Ort, an dem Manson schließlich dingfest gemacht werden konnte.

Ein sperriges Relikt

Sicher muss man, um dem Fall gerecht zu werden, auch Mansons Versatzstücke rechter, zutiefst rassistisch geprägter und teilweise faschistischer Ideologie kritisch ins Visier nehmen. Nicht wenige antifaschistisch gestimmte Aufklärer(innen) neigen hier allerdings zu übergroßer Vereinfachung. Die NS-Symbolik etwa, welche der inhaftierte Manson auf der Stirn trug, findet in der Popkultur massig Äquivalente – etwa im LmaA-Livestyle des im letzten Jahr verstorbenen RnR-Hero Lemmy Kilmister. Macht dies Manson (und Kilmister) zu Nazis? Selbst Mansons (zeitweiliger) Knast-Flirt mit der Aryan Brotherhood ist für die Theorie »organisatorischer Schulterschluss mit der extremen Rechten« viel zu widersprüchlich, um organisierten Faschismus daraus herauszulesen. Weitaus mehr her in Sachen »faschistoides Weltbild« gibt die Realität der von ihm geführten »Family«. In der Tat liefert die Genese dieses losen Haufens, bestehend aus 50 bis 200 Personen, die eindrücklichsten, auch heute noch schockierenden Details in Sachen autoritärer Kult. Verstörendestes Element dieser Detailsicht ist sicher die vergleichsweise rapide vonstatten gehende Wandlung eines prekären Personen-Netzwerks am Rand des Hippie-Mainsteams zu einer rabiaten Sekte mit paranoidem Endzeit-Wahn, Rassenkrieg-Fantasien und Mord-und-Totschlag-Ideologie. Entsprechend verweist die Geschichte von Charles Manson und seiner Family weniger auf die Hippie-Kultur denn auf ähnlich gepolte Todessekten der Machart Waco. Im Detail studieren lässt sich hier die ins Autoritäre gewendete Umkehrung der 68er-Ideale – nicht umsonst der Grund, warum rechtsextreme Subkulturen auf Manson und die Davidianer gleichermaßen abfahren.

Ein sperriger Brocken bleiben Manson und sein desparater Anhang schließlich auch aus feministischer Warte. Die Tatsache, dass Mansons Gruppe zum überwiegenden Teil aus Frauen bestand, lässt sich nun einmal nicht wegdiskutieren. Besonders verstörend hier bleibt, dass Mansons Anhängerinnen (ebenso übrigens wie der männliche Part) sich nicht nur von ihrem Meister demütigen und auch physisch mißhandeln ließen. Auch nach seiner Inhaftierung legten einige bemerkenswerte Aktivitäten an den Tag, um den Kopf der Gruppe wieder freizubekommen. Eine mittelstandsfeministische Sichtweise mag hier nahelegen, dass Manson seine Anhängerinnen eben aus einem prekären Milieu rekrutierte – letztlich der Welt der Heime und Trailerparks, der er selbst entstammte. Allerdings trifft das bei weitem nicht auf alle zu. Ein literarisches Beispiel für die Faszination, die Manson selbst nach seiner Inhaftierung noch ausströmte, ist die israelische Journalistin Michal Welles. Über Jahre führte Welles eine Serie von Interviews mit dem inhaftierten Sektenführer. Ihre Faszination – inklusive der eigenen Ambivalenz – beschreibt sie in ihrem Buch »Charles Manson – meine letzten Worte«. Ob es Erklärungen liefert, das Manson-Syndrom näher zu verstehen, sei dahingestellt. Doch selbst die konservative Welt bescheinigte Welles, »dem Monster« vielleicht näher gekommen zu sein als irgendeine andere Person.

Last but not least: Trotz der rund 200 Buchtitel, die mittlerweile zu dem Komplex vorliegen, wirft auch der große, teils ungeklärte Rest weiter Fragen auf. Ähnlich wie im NSU-Komplex gibt es auch im Fall von Manson und seinen Anhänger(inne)n jede Menge loser Enden – Enden, die sich wahrscheinlich niemals klären lassen. Was bleibt, ist eine faktisch unstrittige, gleichwohl eher profane Wahrheit: das halbe Dutzend prominenter Manson-Anhänger(innen), die immer noch in US-amerikanischen Haftanstalten einsitzen. Einige Nebenfiguren sind längst entlassen und sozial gesehen rehabilitiert – beispielsweise die wegen Attentatsversuch auf US-Präsident Ford verurteilte Kommune-Aktivistin Lynette Fromme, die gleichfalls im Zug von Straftaten während der »Befreiungskampagne« verurteilte Sekten-Aktivistin Mary Brunner oder Linda Kasabian, maßgebliche Kronzeugin in den Prozessen gegen die Gruppe. Susan Atkins, eine der zu lebenslänglich verurteilten Hauptangeklagten, ist 2009 verstorben. In Haft befinden sich im Wesentlichen noch vier: Charles »Tex« Watson, mutmaßlicher Hauptausführer der Tate/La Bianca-Morde, die beiden Mittäterinnen Leslie Van Houten und Patrica Krenwinkle sowie Bobby Beausoleil – letzterer verurteilt in einem der weniger prominenten Mordfälle der »Manson-Serie«.

Van Houten, Krenwinkle, Watson und Beausoleil gehören nicht nur zu den am längsten einsitzenden US-amerikanischen Strafgefangenen überhaupt. Eine weitere Haft – aufrechterhalten vor allem aufgrund der allgemeinen Law-and-Order-Stimmung sowie Einsprüchen der Hinterbliebenen – ist vor allem aus dem Grund schwer zu rechtfertigen, weil Justizia mit ihrer Waage seinerzeit sehr ungleichmäßig ausgeteilt hat. Ohne die Disparitäten bei den Urteilsbemessungen hier im Detail aufzurollen: Eine Begnadigung der noch einsitzenden – und größtenteils längst geläuterten – Manson-Jünger(innen) wäre nichts weiter als ein Akt der Humanität. Er würde nicht nur einen kleinen Teil dazu beitragen, dass sich die Vereinigten Staaten von ihren echatologischen Vorstellungen betreffs Schuld und Sühne verabschieden. Eine Entlassung in die Freiheit – und in ein wahrscheinlich wiedergeborenes und entsprechend angepasstes Leben – würde Amerika vielleicht die Chance geben, endlich mit dem Manson-Komplex ins Reine zu kommen.

Die Prognose, dass eine Begnadigung dazu beitragen könnte, diese Geschichte abzuschließen, gilt übrigens selbst dann, wenn sich Van Houten, Watson, Krenwinkle und Beausoleil jener naheliegenden Lichtgestalt zuwenden sollten, die – wie Manson – das ihre dazu beiträgt, den liberal-freiheitlichen Gehalt des »American Dream« plattzuplanieren: der derzeit amtierende US-Präsident.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Richard Zietz

Linksorientierter Schreiber mit Faible für Popkultur. Grundhaltung: Das Soziale ist das große Thema unserer Zeit.

Richard Zietz

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