Grüne Normalos

Buch Als Buchthema rangieren die Grünen weit oben. Ulrich Schulte hat mit »Die grüne Macht« einen Report vorgelegt über den aktuellen Befindlichkeitszustand der Partei

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Eine Unterstützerin der Grünen während einer Wahlkampfveranstaltung am 9. August 2021.
Eine Unterstützerin der Grünen während einer Wahlkampfveranstaltung am 9. August 2021.

Foto: RONNY HARTMANN/AFP via Getty Images

Eines lässt sich mit fast absoluter Bestimmtheit sagen: Geht es um das Volumen gedruckter Bücher, ist keine bundesdeutsche Partei – die AfD vielleicht ausgenommen – derart extensiv vermessen worden wie Bündnis 90/Die Grünen. Ein Punkt, der Tradition hat: Schließlich gelten die Grünen als die Bildungsbürger-Partei per se – da ist es sozusagen naheliegend, dass sich auch Buchautoren, Journalisten, Sozialwissenschaftler sowie sonstwie Betroffene in ausführlicher Breite zu Wort melden. Die Tradition, alles zu vermessen – Programmatik, den Zustand der Welt, Perspektiven und, last but not least, auch eigene Erfolge und Mißerfolge – hat, historisch gesehen, eine unterschiedliche Konjunktur unterschiedlicher Pulsmessungsmethoden zur Folge gehabt. In der Sturm-und-Drang-Ära der Endachtziger waren vor allem linke Partei-Exponent(inn)en wie Jutta Ditfurth, das Duo Trampert/Ebermann oder auch der gemäßigt-linke Ludger Vollmer gesamtparteibetrachtungstechnisch recht publikationsfreudig. Mit Rot-Grün verlagerte sich das Interesse stärker auf die Zunft der Sozialwissenschaftler. Ein Markstein hier ist vermutlich Edgar Wolfrums Ära-Betrachtung Rot-Grün an der Machtgrundsätzlich, historisch, wohlwollend gegenüber Rot-Grün und nicht zuletzt: seitenstark, wie es sich für ein historisches Werk gehört.

All das ist nunmehr über fünfzehn Jahre her. Seither ist viel passiert – vier Merkel-Regierungen, eine Finanzkrise, eine Flüchtlingskrise, eine Pandemiekrise und, bereits länger: eine Klimakrise. Dabei war bereits die Vorgeschichte der Partei nicht ganz unproblematisch. Unter Rot-Grün waren die Grünen für umstrittene Auslandseinsätze ebenso mitverantwortlich wie für die – gleichfalls stark umstrittenen – Hartz-IV-Gesetze. Seit 2005 ist die Partei in der Opposition – und bietet dort ein widersprüchliches Bild. Einerseits: vorsichtiges Abrücken von unpopulären Entscheidungen aus der Schröder-Ära, andererseits: Mitregieren in fast allen möglichen Konstellationen von Rot-Rot-Grün (Thüringen und Berlin) bis Schwarz-Grün (Baden-Würtemberg und Hessen). Eine Neuvermessung der Partei legen schließlich auch die aktuellen Umfragen nahe. Lange Rede kurzer Sinn: Ulrich Schulte, Ex-Inlands-Ressortchef der taz, hat das Vorhaben in Angriff genommen. Das Ergebnis, der im Januar erschienene Titel Die grüne Macht, liest sich zwar ähnlich grünen-nah wie die Berichterstattung der taz. Andererseits ist es Autor Schulte gelungen, ein Zustandsbild der Partei einzufrieren, das vorwiegend auf nahjournalistischen Beobachtungen und Recherchen basiert. Wenn man so will: eine 240 Seiten starke Reportage darüber, was die Grünen im Jahr 2021 ausmacht, was sie umtreibt, was sie sind und was sie – aller Voraussicht nach – nicht sind.

Der journalistische Nahblick geht einher mit den gängigen Techniken: Insider-Interviews, aus Beobachtungen destillierte Betrachtungen, schnelle Schnitte ähnlich wie bei einer Reportage und schließlich das sachverständig-professionelle Kombinieren von A und B. Zweifelsohne hat Schultes Herangehensweise ihre Nachteile: im Grunde sind es exakt die, mit denen journalistische Tiefenbetrachtunggen insgesamt behaftet sind: der Verzicht, in Teilaspekten stärker in die Tiefe zu gehen, der Verzicht, gesellschaftliche Gesamtentwicklungen auf breitere Weise mit einzubeziehen und schließlich die Versuchung, die »Story« eben an Personen, an eingängigen »Gesichtern« aufzuhängen. Ein weiterer Nachteil ist – je nach Sichtweise – Geschmackssache: die im Tenor doch stetig durchscheinende Grundsympathie des Autors mit dem Gegenstand seiner Betrachtung. Ein Umstand allerdings, der im konkreten Fall lediglich für einen gewissen Ausgleich sorgt: wenn man mit einbezieht, dass politische Berichterstattung stetig parteilich gefärbt ist und die anderen, Stichwort: rot-grün versifft, den Betrachtungsgegenstand nicht gerade mit Nachsicht behandeln.

Eine kritiklose Sympathie – oder gar: Schönfärbung – ist bei Schultes Grünen-Titel nicht herausgekommen. Im Gegenteil. In insgesamt zwanzig Spots, volumentechnisch im eher überschaubaren, kompakten Bereich liegend, arbeitet Schulte die Sollbruchstellen der neuen grünen Bürger(innen)partei unter Baerbock und Habeck ab. Die alleraktuellsten Entwicklungen – die Kalamitäten um Baerbocks Buch, die 2021er-Sommerflut und der aktuelle Klimabericht – kommen darin naturgemäß nicht vor. Ansonsten liefert Schulte ein brauchbares Zustandsgemälde der grünen Partei, wie sie sich zum Jahreswechsel 2020/2021 dargestellt hat. Die Geschichte beginnt mit einem knappen Abstecher ins grüngeschichtliche Altertum. Gewährsleute dabei: die Altfeministin und Publizistin Eva Quistorp sowie der ehemalige Co-Bundesvorsitzende Reinhard Bütikofer. Nach den Kurzresummées, was den Unterschied zwischen den alten und den neuen Grünen ausmacht, geht es auch gleich zum derzeitigen Spitzenpersonal: Robert Habeck und Annalena Baerbock. Leser(innen), welche die politischen Geschehnisse interessiert verfolgen, stoßen hier auf wenig überrraschende Fakten, Befunde und Einschätzungen: Nein – die Grünen sind nicht superspontan, authentisch und basisdemokratisch bis zum Exitus. Stattdessen zeichnet Schulte mit spritzen Strichen die Kontrollversessenheit der aktuellen Spitzengrünen nach. Spots, deren Inhalt bereits die Kapiteleinleitungen hinreichend deutlich machen – etwa in »Kontrolle: Ungeschriebene Interviews, ängstliche Abgeordnete und gespielte Lässigkeit«.

Wer wird das leugnen: Sein und Schein sind zwei Paar Schuh’ – in der politisch-medialen Arena allemal. Weitere Stationen in Die grüne Macht sind die Befindlichkeit grüner Durchschnittswähler(innen), der neue Pragmatismus der Partei, ihre neu-mittige Selbstverortung und schließlich die Ergebnisse von grünem (Mit-)Regieren in der Praxis. Wie sieht der Spagat konkret aus, wenn die Partei einerseits großzügige Aufnahmekriterien für Geflüchtete propagiert, andererseits für Abschiebungen in menschenrechtlich prekäre Länder wie Tunesien oder Marokko mitverantwortlich ist? Mit im Blick zu behalten ist bei alldem der politische Gegner – speziell dann, wenn dieser, wie der seinerzeitige CSU-Verkehrsminister Alexander Dobrindt, zu grob unfairen Mitteln greift und Aussagen grüner Spitzenpolitiker (wie im konkreten Fall Claudia Roth) auf eine Weise verdreht, dass rechter Wutbürger-Furor nicht lange auf sich warten lässt und schnell in Bereiche jenseits des gesetzlich Erlaubten überschlägt. Last but not least wirft Ulrich Schulte auch einen kurzen Blick in die Glaskugel. Wie werden die Grünen unter Baerbock und Habeck agieren – wo speziell im Bereich Klimaerwärmung mittlerweile neue Basisbewegungen wie etwa Friday for Future auf dem Plan stehen, welche die Grünen ob ihrer Inkonsequenz deutlicher Kritik unterziehen?

Fazit so: Open End. Ein Wohlfühlbuch der Sorte, die man eben für den Wahlkampf zusammenstrickt, ist Die grüne Macht sicher nicht. Wer ideologisch vorimprägniert ist und entsprechend gewohnt, politische Entscheidungen an Prinzipien festzumachen, wird in Die grüne Macht wenig Neues finden – respektive eher solches, was die eigene Meinung verstärkt. Wenig ein Buch für die Nachttisch-Ablage dürfte Die grüne Macht allerdings auch für die eher gutbetuchte Kernklientel der Partei sein – obwohl Ulrich Schulte einige Erhebungen präsentiert, welche eine sozial breiter aufgestellte Grünen-Anhängerschaft durchaus in den Bereich des Wahrscheinlichen rücken. Lesenswert ist Die grüne Macht letztlich vor allem für politisch interessierte Leserinnen und Leser, die eben genauer wissen wollen, wie genau die politischen Formationen A oder B ticken. In dem Sinn hat Ulrich Schulte ein inforeiches wie in Strecken sogar spannend zu lesendes Buch geschrieben – insbesondere auch vor dem Hintergrund, dass trotz aller Informationsfluten über potenziell abgeschriebene Stellen in einem Schnellschuss-Buch ein vergleichbar zeitaktueller Report derzeit nicht vorliegt.

Ulrich Schulte: Die grüne Macht: Wie die Ökopartei das Land verändern will. Rowohlt Verlag, Berlin 2021, 240 Seiten, 16 Euro, ISBN 978-3499005527.

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Geschrieben von

Richard Zietz

Linksorientierter Schreiber mit Faible für Popkultur. Grundhaltung: Das Soziale ist das große Thema unserer Zeit.

Richard Zietz

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