Aus dem Tritt

Balance Manchmal sieht man genauer hin, wie Menschen sich um Gleichgewicht mühen.

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Als ich kürzlich von Besorgungen zurückkam, kam mir ein junger Mann entgegen, der sich etwas mühsam mit Hilfe einer Krücke bewegte. Um den Unterschenkel hatte er eine merkwürdige Schutzverpackung, eine Schiene war es wohl nicht. Sein Blick ging ungeduldig zwischen dem Weg direkt zu seinen Füßen und nach vorn hin und her und ich wusste, was dieser Blick bedeutet: Er schätzte ab, wie weit es noch bis zum Ende dieses Weges ist. Denn dort sind bald Möglichkeiten, sich kurz zu setzen und auszuruhen. Genau weiß ich es nicht, aber es schien, als sei die Einschränkung oder Verletzung des jungen Mannes temporär, vielleicht ein Bruch oder eine Prellung. Anzunehmen ist, dass er vielleicht bald wieder schnell und unbehindert laufen kann. Die Ungeduld in seinem Blick sagte das.

In einer geduldigen, schicksalsergebenen Variante kenne ich diesen Blick von einem Bewohner unseres Hauses. Er sei - so hat er stolz im Fahrstuhl verkündet – an diesem Tage 90 Jahre alt geworden. Geboren also im Jahr 1922, Soldat gewesen – an welcher Front hat er nicht erzählt. In den letzten Kriegstagen noch hat wurde er so am Bein verletzt, dass es amputiert werden musste. Seit der Nachkriegszeit also läuft er mit einer Prothese und einem Stock, um die Kräfte besser zu verteilen und Balance zu halten.

Er war – so hat er einmal meinem Mann auf dem kurzen Weg von der S-Bahn erzählt – ein überzeugter Genosse. Er dachte, damit die richtigen Lehren aus den Kriegserlebnissen zu ziehen. Was er beruflich gemacht hat, weiß ich nicht. Die Wende – da war er schon Rentner – habe ihm zugesetzt, erzählt er. Mehr wissen wir nicht über ihn, wir sind erst vor einigen Jahren hierher gezogen. Oft sehen wir ihn und seine Frau - von der Straßenbahn kommend - uns langsam entgegengehen. Ich stelle mir vor, wie schwer das sein muss, wie viel Kraft jemand ständig zusätzlich braucht, um mit solch einem Hilfsmittel zu laufen, wie man einen Stumpf pflegt, der seit über 60 Jahren eine Prothese halten muss, ob er noch Schmerzen hat. Phantomschmerzen vom Krieg, von den erlebten Irrtümern und vergebenen Mühen und einem Leben in ständiger Suche nach Balance.

Es gibt manchmal Zeiten, wo man genauer hinguckt, sich mehr Gedanken macht. Mir geht’s im Moment so. Ich habe eine Weile – nur vorübergehend – gespürt, wie lang Wege werden können, die sonst kurz und unaufwändig schienen und schnell und mit Freude an der Bewegung durchschritten wurden. Aus dem Gleis, aus der Balance, aus dem Gleichgewicht. Das gibt’s manchmal im Leben.

Und während auch ich neue Balance suche, frage ich mich, ob wir nicht alle mit irgendetwas aus dem Tritt sind oder mit irgendwas nachhinken. Man muss immer neu suchen.

Der alte Herr hat seinen Geburtstag – wie ich hoffe – gut gefeiert. Ich habe ihn längere Zeit nicht gesehen. Und der junge Mann ist vielleicht wieder schneller unterwegs.

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Geschrieben von

Magda

Immer mal wieder, aber so wenig wie möglich

Magda

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