Golden Mask: Russlands wichtigstes Theaterfestival im Jahr des Krieges

Theater In Moskau steht das wichtigste Theaterfestival des Landes bevor. Doch auf und hinter russischen Bühnen kehren Praktiken der sowjetischen Vergangenheit zurück
Exklusiv für Abonnent:innen | Ausgabe 05/2023
In „Maria Stuart“ am Moskauer Theater für Junge Zuschauer geht es um einen hermaphroditischen Monstertyrannen, der „die schöne Maria der Zukunft“ gefangen hält
In „Maria Stuart“ am Moskauer Theater für Junge Zuschauer geht es um einen hermaphroditischen Monstertyrannen, der „die schöne Maria der Zukunft“ gefangen hält

Credit: Elena Lapina/Moscow Theater of the Young Spectator

Längst weiß man in der russischen Theaterszene von den „schwarzen Listen“ des Kulturministeriums – sie bedeuten ein Berufsverbot für jene, die sich gegen die „Sonderaktion“ ausgesprochen haben. Dazu gehören die Regisseure Rimas Tuminas, Mindaugas Karbauskis, Dmitri Krymow, Kirill Serebrennikow, Timofei Kuljabin und viele andere – die Besten der Besten der letzten 20 Jahre. Ihre Aufführungen sind entweder abgesetzt, oder sie werden gespielt, ohne den Namen des Regisseurs zu erwähnen – wie im Fall des Stückes Das Holz am Moskauer Tschechow-Kunsttheater: Anstelle des Namens von Kirill Serebrennikow stand im Programm nur „Regisseur – Regisseur“.

Doch das Beängstigende ist nicht, was wir verloren haben, sondern was wir stattdessen erhalten. Die wenigen anständigen Leute, die an den Spitzen der Kultureinrichtungen verbleiben, sind gezwungen, zu den Praktiken der sowjetischen Vergangenheit zurückzukehren – Vermeidung heikler Themen, Doppeldenken, Selbstzensur. Es scheint, dass künftig bestenfalls die Komödien von Shakespeare und Lope de Vega zu sehen sein werden – die schon in den sowjetischen 1930er Jahren sicheren Autoren.

Keine Scherze mehr

Man kann den Staatstheatern Feigheit vorwerfen, aber man kann auch nicht ignorieren, dass sie vom Staat in Geiselhaft genommen werden – er ist ihr Hauptgeldgeber und -kunde. Nur wenigen Intendanten und künstlerischen Leitern gelingt es, sich dem patriotischen Druck zu entziehen. Im Frühjahr vergangenen Jahres erzählte mir der Intendant eines Provinztheaters fröhlich, wie das örtliche Kulturministerium von ihm verlangte, ein patriotisches Video auf einem Bildschirm an der Außenwand seines Theaters abzuspielen, dieser aber im richtigen Moment aufgrund eines „technischen Fehlers“ nichts zeigte. Heute funktionieren solche Scherze nicht mehr; die Situation ist eiskalt und versteinert. Das zeigt sich sehr deutlich an der Situation des wichtigsten Theaterpreises des Landes.

Die „Goldene Maske“, ein Theaterfestival, das auch einen Preis vergibt, wurde als private Initiative zu Beginn der turbulenten 90er Jahre ins Leben gerufen, als die alten kulturellen Bindungen zerstört wurden und die Theater zur völligen Freiheit auch schreckliche Armut erhielten. „Die Maske“ setzte auf professionelles Fachwissen. Zehn bis zwölf Kritiker sahen sich das ganze Jahr über Aufführungen in Moskau, St. Petersburg und in der Provinz an; dann stimmten die Kritiker untereinander ab und stellten eine Liste der bemerkenswertesten Aufführungen des Jahres zusammen. Sie suchten nicht nach Ideologie, sondern nach künstlerischer Innovation und Können. Oft prallten unversöhnliche Standpunkte innerhalb des Expertenrates aufeinander, aber am Ende ergab sich erstaunlicherweise ein objektives Bild. Sogar als das Kulturministerium in der Saison 2015/2016 vier Ultrakonservative in den Rat setzte, um diese allzu freche Privatinitiative zu beeinflussen, nominierte selbst dieser Rat wahrhaft würdige Inszenierungen.

Das Festival hat sich etabliert. Es wurde sogar gescherzt, dass es zu einem Analogon des Staatspreises der UdSSR geworden sei. Es hat viel dazu beigetragen, das durchschnittliche Niveau des Theaters im Land zu heben: Es hat unterbrochene Verbindungen wiederhergestellt, die Provinzen ins Rampenlicht gerückt; vor allem die Kleinstädte, in denen das Theater der einzige Hauch frischer Luft ist, weil die wichtigsten Werke oder Fabriken geschlossen sind und die Menschen entweder viel trinken oder weggehen. Plötzlich war es möglich, von Lesosibirsk in der Region Krasnojarsk nach Moskau zu fahren und den wichtigsten Theaterpreis des Landes zu bekommen. Die Regisseure hatten keine Angst mehr, in der Provinz zu arbeiten (ging man in den 90er Jahren dorthin, wusste man, dass die Hauptstadt einen für immer vergessen würde), und die Theater hatten keine Angst, neue Regisseure einzuladen.

Das Festival scheute sich auch nicht, junges Theater, performative Praktiken, immersive und partizipatorische Aufführungen, oft inspiriert durch Reisen zum Festival von Avignon und zum Berliner Theatertreffen, zu fördern. In den 2010er Jahren gehörte es zum guten Ton, über die Agenda der europäischen Theater Bescheid zu wissen; Theaterleute verfolgten aufmerksam, was das seit 1998 bestehende NET (New European Theater) Festival nach Moskau brachte. Die Programmdirektoren des NET sind jetzt auch im Ausland: Marina Dawydowa wurde Programmdirektorin der Salzburger Festspiele, nachdem sie laut gegen den Krieg protestiert hatte – was ihr eine Verhaftung an der Grenze und den Buchstaben Z an ihrer Wohnungstür einbrachte. Roman Dolzhanski, der am Theater der Nationen als rechte Hand von Jewgeni Mironow, Putins Stellvertreter, arbeitete, verließ das Theater still und heimlich.

Von der Bühne in den Krieg

Zu Beginn des Jahres 2022 war die Arbeit der „Goldenen Maske“ bereits durch zwei Corona-Jahre untergraben, und nach dem 24. Februar wurden sofort Stimmen laut, das Festival abzusagen. Doch die Experten der Saison 2021/2022 reisten hartnäckig durch das Land und sahen sich die Aufführungen an, nicht zuletzt, um Zeugnis der Veränderungen ablegen zu können. Es war eine einmalige Gelegenheit, in einem schrecklichen Moment das Panorama des Landes zu sehen – von Hauptstädten zu Kleinstädten, von Juschno-Sachalinsk und Irkutsk im Osten bis Petrosawodsk im Westen und Krasnodar im Süden.

Aufführungen wurden mitten in der Spielzeit aus dem Repertoire gestrichen, weil die Regisseure abreisten oder alle männlichen Schauspieler zur Mobilisierung abgezogen wurden. Das Festivalprogramm konnte nicht einfach eine Auswahl der besten Produktionen sein, denn die Hälfte der besten wurde sofort aus dem Spiel genommen; also wurde es zu einer Botschaft. Der Kern des Programms sind nun drei Inszenierungen eines Regisseurs in verschiedenen Theatern. Pjotr Schereschewski, 52, hatte keine Angst vor dem politischen Theater und schuf eine Trilogie über die jüngste Geschichte Russlands: Jewgeni Samjatins Attila im Tschechow-Zentrum in Juschno-Sachalinsk ist die Geschichte der Hunnen, die Rom zerstören, nur dass sich die Hunnen als die tschetschenischen Kämpfer entpuppen. Shakespeares Macbeth im Theater von Nowokusnezk handelt von den Banditen der späten 90er Jahre, die zwar schrecklich, aber menschlich waren und deshalb dem neuen Bösen (das 1999 an die Macht kam) unterlagen. Und schließlich Schillers Maria Stuart am Moskauer Theater für Junge Zuschauer, in dem es nicht um die Rivalität und Eifersucht von Frauen geht, sondern um einen hermaphroditischen Monstertyrannen, der „die schöne Maria der Zukunft“ (das schöne Russland der Zukunft) im Untersuchungsgefängnis gefangen hält.

Die Experten wollten auch eine Liste verbotener Aufführungen und Regisseure erstellen und die Vorsitzende des Rates, Dina Goder, eine liberale Kritikerin aus der Generation der goldenen 2000er Jahre, der Hochzeit der gedruckten Presse in Russland, sollte sie auf einer Pressekonferenz verlesen. Doch Festivaldirektorin Maria Revyakina sagte die Pressekonferenz mit Verweis auf direkte Drohungen gegen das Festival und gegen sie persönlich seitens der Moskauer Kulturbehörde ab. Außerdem hat die Festivalleitung den Experten eine beschämende Bedingung auferlegt: Sie dürfen keine Regisseure nennen. Diese feige Selbstzensur war ein Schlag für alle Mitglieder des Rates und löste eine Welle der Empörung in der Theaterszene aus.

Das Festival selbst soll im März und April 2023 in Moskau stattfinden, aber welche der Aufführungen bis dahin überleben werden – das ist eine große Frage. Eine Premiere aus Vorkriegszeiten (von Dezember 2021) von Timofei Kuljabin aus Nowosibirsk war ebenfalls nominiert, aber das Theater selbst hatte sie bereits aus dem Repertoire genommen. Der 38-jährige Kuljabin, der heute in Berlin und Riga arbeitet, gibt Interviews, in denen er den Krieg und die Politik der russischen Regierung scharf verurteilt; nach einem weiteren solcher Interviews im Dezember 2022 wurde sein Vater, Alexander Kuljabin, vom Posten des Direktors des Theaters in Nowosibirsk abgesetzt – wo er zuvor 23 Jahre lang gearbeitet hatte, das heißt, er hatte die volle Unterstützung der örtlichen Behörden. In diesen Tagen wird er der Veruntreuung von Haushaltsmitteln beschuldigt, und es wird ein Strafverfahren eingeleitet – ein übliches Verfahren der Einschüchterung. Das ist natürlich ein Signal nicht nur für seinen Sohn, sondern auch für die anderen Direktoren: Sie haben zu gehorchen.

Das schlimmste Beispiel für die Überlebenspolitik sind die Handlungen von Kirill Krok, dem Direktor des Wachtangow-Theaters in Moskau – einem nationalen Theater mit riesigem Budget. Er schüttelt die Hände von Chefbeamten des Geheimdiensts FSB, berichtet in seinen sozialen Medien, dass sein Theater die Schirmherrschaft über ein Bataillon „unserer Jungs“ – also die russischen Soldaten in der Ukraine – übernommen hat, sammelt Spenden für die Front. Als er vor einigen Jahren zum Wachtangow-Theater kam, galt er als Geschäftsmann, der Ordnung und Wohlstand bringen würde, jetzt scheint er nicht gewillt zu sein, ein gut etabliertes Unternehmen zu verlieren. Leute wie er rechtfertigen sich mit dem Mantra „Wir retten das große russische Theater“. Aber was wird davon übrig bleiben?

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