Hochschulen Bedroht eine „linksgrüne Hegemonie“ das akademische Leben? Oder ist Wissenschaftsfreiheit eine Chiffre für „neurechte Narrative“? Fest steht: Die Uni-Kultur muss auf die Couch. Eine Psychoanalyse
In ihrem Buch Triggerpunkte. Konsens und Konflikt in der Gegenwartsgesellschaft (2023) haben Steffen Mau, Thomas Lux und Linus Westhauser in der Absicht, „bestimmte Debatten in ihrem Erregungsüberschuss“ zu verstehen, das Konzept „Triggerpunkte“ vorgeschlagen. In der Psychoanalyse nennt man solche Triggerpunkte, die emotional mobilisieren und auf vor- oder unterbewusste Strukturen verweisen, auch Schlüsselreize. Ganz sicher gehört der Streit um die Wissenschaftsfreiheit zu den Schlüsselreizen unseres Gegenwartsfurors.
Freud geht es in seinem Aufsatz Das Unbehagen in der Kultur von 1930 bekanntlich darum, das Verhältnis von Kultur und „Unbehagen“ zu untersuchen, also darum, woher Affekte und emotionale Zustände wie empfundene
ustände wie empfundene Unlust, gefühltes Leid, Kränkung, Aggression, vermeintliches oder tatsächliches Unglück möglicherweise stammen. Kultur erscheint in dieser so grundlegenden Schrift als Verweigerungs-, nicht als Verwirklichungsraum. Der Streit um die Wissenschaftsfreiheit ist ein Kampf um oder gegen das Unbehagen in der Wissenschaft und der Wissenschaftspolitik.Evidenz für dieses Unbehagen bietet die Beobachtung, dass wachsende Polarisierung, ein um sich greifender Ton der radikalen Unversöhnlichkeit, Denunziation und Agitation, die Konfusion von Sache und Emotion in der Debatte doch auf eine emotional-affektive Tiefenstruktur schließen lassen, deren Aufklärung aufschlussreich sein könnte. Es geht hier nicht um Individuen oder darum, die Akteure oder ihre Texte gleichsam auf die Couch der analytischen Kur zu legen. Vielmehr geht es um die Verbindung von Sozial- und Psychoanalyse.Libidinöse AggressionenMario Erdheim, der Schweizer Ethnologe und in Zürich praktizierende Psychoanalytiker, hat dem Verhältnis von Wissenschaft, Kultur, Gesellschaft und Psychoanalyse mehrere Bücher gewidmet. Eigentlich, schreibt Erdheim in Psychoanalyse und Unbewußtheit in der Kultur (Suhrkamp 1988), sei Wissenschaft der „Gegensatz zur Unbewußtheit“. Nur, so Erdheim weiter, „in dem Maße, wie es dem Menschen gelingt, die unbewußten, sich vorwiegend aus dem Narzißmus speisenden Widerstände zu überwinden, kann er sich ein wissenschaftliches Bild von sich und seiner Welt schaffen“. Wissenschaft ist immer Aufklärung, da über Methoden, Theorien und Begriffe der Wissenschaftler sich von sich selbst distanziert. Das wissenschaftliche Bewußtsein, konstatiert Erdheim, sei aber nicht Herr im eigenen Haus. Genau diese Triebstrukturen, so Erdheim weiter, seien konstitutiv gefährlich für die Wissenschaft, „so daß sie ins Unbewusste verdrängt werden“ müssten, da sie den rationalen Forschungsprozess gefährden oder verunmöglichen“.Gerade in der Debatte um Wissenschaftsfreiheit und Cancel Culture kann man die Wiederkehr von Aggressivität und ihrer libidinösen Energie beobachten. Ein Beispiel: Adrian Daub hat in seinem Buch Cancel Culture Transfer. Wie eine moralische Panik die Welt erfasst (Suhrkamp 2022) auf den Mechanismus einer moralischen Panik aufmerksam gemacht. Er leugnet nicht die Cancel Culture per se, sondern versucht, ihre Verfahrensweise zu beschreiben, die er eben mit dem Soziologen Stanley Cohen „moralische Panik“ nennt. Mit dem Ausdruck „moralische Panik“ wird versucht, gesellschaftliche, kulturelle, mediale und politische Reaktionen auf abweichendes Verhalten innerhalb einer gegebenen (auch institutionellen und damit symbolischen) Ordnung zu beschreiben. Wenn der Siegener Philosoph Dieter Schönecker Adrian Daub im Streit um Cancel Culture als „Fanatiker“ bezeichnet, ist ein anderer Ton gesetzt, der eine Aggressionsstruktur offenbart. Es kommt, so kann man es zumindest sehen, hier zur Wiederkehr des Primitiven.Vor Kurzem hat die Stuttgarter Literaturwissenschaftlerin Kristin Eichhorn unter dem Titel Bekenntnisse sind gut, Taten sind besser vom „Narrativ“ akademischer Cancel Culture gesprochen, das vom Netzwerk Wissenschaftsfreiheit „bespielt“ werde. Die von den Gegnern des Netzwerks bespielten Narrative lauten: Erstens gibt es die Cancel Culture nicht. Zweitens perpetuiert die Kritik an gewissen Strömungen und Auffassungen der Migrations- und Genderforschung das Parteiprogramm der AfD. Und drittens: Es gibt keine linksgrüne Hegemonialkultur. Für Kristin Eichhorn resultiert aus einem zweifelsohne verstörendem Ereignis – das Potsdamer Treffen – eine ganze Bedrohung der demokratischen Kultur, für die das Netzwerk pars pro toto steht, weil ein Mitglied dort zugegen gewesen ist. Potsdam ist ja ohnehin zur Metonymie des Rechtspopulismus und der Gefährdung unserer Demokratie mutiert.Jüngst hat sich die Präsidentin der Technischen Universität Berlin auf dem Portal table.media eindeutig gegen das Netzwerk Wissenschaftsfreiheit positioniert. Geraldine Rauch wirft dabei auch mit dem Ausdruck „Narrative“ um sich, die von Seiten des Netzwerks verbreitet würden. Sie arbeitet mit dem Prinzip der Ähnlichkeit zwischen Rechtspopulismus und Netzwerksagenda, das sie als „gefährlich“ beschreibt und in die Nähe der „neuen Rechten“ rückt, um vor dem Netzwerk mit „tiefster Sorge“ zu warnen.Narrativ ist ein Ausdruck aus der Erzählforschung, der sich längst von seiner disziplinären Heimat entfremdet hat. Narrative, so muss man zunächst sagen, unterscheiden sich von einzelnen Geschichten dadurch, dass sie, wie Albrecht Koschorke formuliert, „erzählerische Generalisierungen“ ermöglichen, die einen „Unterschied zur unabzählbaren Vielfalt individueller Geschichten“ machen. Die Generalisierungsfähigkeit von Narrativen ist ihr unschätzbarer Vorteil, den beide Seiten nutzen. Die Narrative „Rechtpopulismus“ und „linksgrüne Hegemonialkultur an Universitäten und im Kulturbetrieb“ funktionieren wie ein lust- oder zwangsbesetztes Objekt – wie ein Fetisch also.Vom „Narrativ“ zum FetischIn dieser affektiven Beziehung soll ja gerade das Objekt oder das Bezeichnete in einer Weise präsent werden, die alle Zweideutigkeit auflöst: Alles ist schon immer klar, diskutiert werden kann darüber nicht. Der Fetischcharakter des Objekts – das Narrativ der „neuen Rechten“ oder das der linksgrünen Hegemonialkultur – ist für den wissenschaftspolitischen Fetischismus somit real in einer Art und Weise, die der Ambiguität der Zeichen widerspricht. Es handelt sich nämlich um Realpräsenz dessen, was bezeichnet wird, also um eine Unmöglichkeit in unserer durch Ambiguität gekennzeichneten Zeichenwelt: Nämlich der Perpetuierung rechtskonservativer Weltbilder – inklusive Freund/Feind-Schema – durch das Netzwerk oder der Dogmatik linksgrüner Hegemonial- und Weltverbesserungsvorschläge.In seinem Text Der Familienroman der Neurotiker schreibt Freud, dass zum „Wesen der Neurose“ eine „ganze besondere Art der Phantasie“ gehöre, die sich vieler Strukturen bemächtige und diese – wie zum Beispiel die Familie – in etwas anderes verwandele. Die neurotische Erfahrung ist ja eben die „Empfindung, dass die eigenen Neigungen“ durch die sozialen Umwelten „nicht voll erwidert werden“. Es geht den Mitgliedern, aber auch Gegnern des Netzwerks darum, die sozialen Ordnungen, ihre institutionelle und symbolische Ordnung dafür verantwortlich zu machen, dass der eigene Ansatz, die eigenen Haltungen nicht voll „erwidert“ werden oder nicht werden können.In diesem Sinne wären Bücher wie das jüngst erschienene von Susanne Schröter Der neue Kulturkampf. Wie eine woke Linke Wissenschaft, Kultur und Gesellschaft bedroht (Herder 2024) oder Sabine Harks Gemeinschaft der Ungewählten. Umrisse eines politischen Ethos der Kohabitation (Suhrkamp 2021) „Familienromane“. Das ist kein Urteil über deren Inhalte. Insbesondere Schröters Buch enthält hochinteressante Passagen über nicht demokratisch legitimierte Lobbystrukturen in der Wissenschaftspolitik, die sich vor allem in umstrittenen Feldern wie Islamismus- und Migrationsforschung zeigt.Die AbfuhrBei Geraldine Rauch geht es um Formeln für die Beschreibung des Netzwerks, das ihr – auch dies ist ihr gutes Recht – zuwider ist. Aber sie sollte diese Ablehnung nicht im Namen der Technischen Universität kommunizieren. Als Präsidentin darf sie selbstverständlich im Namen der Universität sprechen, aber vielleicht muss dieser präsidiale Sprechakt etwas dosierter eingesetzt werden. Und hier sind wir wieder bei der Psychoanalyse. Der Name-des-Vaters (französisch: Nom-du-Père) ist bei Lacan ein Megasignifikant, der das Funktionieren und die Kohärenz von Gesetzen der symbolischen Ordnung in Gesellschaft und Institutionen garantiert. Er wird somit zum Strategem. Genau diese symbolische Ordnung sieht Rauch bedroht. Jedes Gesetz, auch das Verdikt über das Netzwerk Wissenschaftsfreiheit, spricht immer schon „im Namen des Vaters“ und verdankt diesem Sprechakt seine Autorität.Das Unbewusste, so hat es Freud gesagt, besteht aus Inhalten, die verdrängt und nicht symbolisierbar sind. Das Unbewusste muss immer einen Umweg um Mechanismen der Verschiebung und der Verdichtung gehen. Nur unter Umwegen drängen also die Inhalte des Unbewussten ins Bewusstsein und rufen nach, wie Freud schreibt, „Abfuhr“.Die Erkenntnis, dass Institutionen wie die Universität und Politikfelder wie etwa Wissenschaftspolitik in hohem Maße irrational, affektiv und ressentimentgeladen sind, verlangt eben nach Abfuhr. Sie ist unbequem. Überhaupt, so scheint es, wird unsere neurotische Gegenwart heimgesucht von Überschüssen, Triggerpunkten und Fetischisierungen. Der Campus ist also immer auch ein Campus der Neurotiker, da, mit Freuds Konzept der Neurose gesprochen, die Verdrängung nie vollständig gelingen kann. Für unsere neurotische Wissenschafts- und Universitätspolitik gilt also: Der Neurotiker ist eine schmerzvoll realistische Bildungsfigur unserer Gegenwart.Placeholder authorbio-1
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