„Ich wollte schon immer Dresden besuchen, aber irgendwie bin ich nie dazu gekommen.“ Zuletzt wurde die Aussage noch gesteigert: „Ich wollte ja schon immer mal nach Dresden, aber nach dem, was in letzter Zeit bei euch so los war ...“ Eine ganze Region wird so von der Reiselandkarte gestrichen – No-go-Area. Dabei bestätigten die pöbelnden Pegida-Ossis nur das, was man ohnehin schon fühlte: dass der Osten fremd ist. Amsterdam, Venedig – das sind Sehnsuchtsorte. Aber Chemnitz?
Fragen Sie mal einen Ostdeutschen, viele werden Ihnen erzählen, dass das Erste, was sie in den Wochen nach dem Mauerfall unternahmen, eine Reise in den Westen war. Traumziele von Hamburg bis Wien oder Paris. Später brachen nicht wenige aus beruflichen Gründen in den Westen auf. In meiner Kindheit waren viele Väter auf Montage im Westen. Und selbstverständlich studierte meine Generation, jene, die ganz knapp vor der Wende geboren wurde, in Aachen oder Stuttgart.
Aachen war übrigens der Ort, an dem ich zur DDR-Bürgerin gemacht wurde, indem mich meine damalige Vermieterin als solche bezeichnete, nachdem ich ihr Stasi-Spitzelmethoden beim Auskundschaften ihrer Mieter vorgeworfen hatte. Dabei war ich noch nicht einmal „Zonenkind“ (Jana Hensel). Ich hatte nie ein FDJ-Hemd getragen oder erlebt, was DDR-Sozialisation dem Klischee nach sonst so ausmacht. Es brauchte erst ein wütendes Streitgespräch zwischen mir und einer Vermieterin, um mir klarzumachen, dass ich als Ostdeutsche markiert war. Und dass das Land, in dem ich geboren wurde, nicht mehr existiert. Das ist eine Erfahrung, die nicht viele Westeuropäer vorweisen können. Nicht, dass ich mir wünschte, es wäre anders gekommen! Es bedeutet aber, dass alte und nicht ganz so alte Ostdeutsche eine Grunderfahrung teilen: den absoluten Bruch in der Biografie.
Wenn ich mir von Westdeutschen etwas wünschen dürfte, dann wäre es der Versuch, dieser biografischen Stunde null, um ein sehr großes Wort zu benutzen, nachzuspüren. Nicht in der Theorie, eher in der Praxis. Sich auf die leibhaftige Begegnung mit Ossis einzulassen, in Dresden oder anderswo, und zwar gerade nicht in politischen Gesprächen. Sigmar Gabriel, der nach Ostdeutschland reist, um den politischen Bedenken der Bürger Gehör zu schenken, bleibt für mich der Inbegriff des Missverständnisses über Verständigung zwischen Ost und West. Sie kann nicht in einem politischen Raum erfolgen. Dem Osten mangelt es an vorpolitischen Begegnungsräumen. Zwischen Ostdeutschen. Zwischen Ostdeutschen und Migranten. Zwischen Ost- und Westdeutschen. Weil das Fehlen von aktiven Kirchgemeinden, Vereinen und Gewerkschaften vielerorts Begegnung unmöglich macht, braucht es endlich Alternativen. Die müssen wachsen, sind nicht einfach zu verordnen, können jedoch – hier ein Wink an die Politik – mit Geld gefördert werden.
Zugleich spürt man eine enorme Sehnsucht vieler Ostdeutscher, einmal nicht mit Politik belangt zu werden, sobald mehr als eine Handvoll Menschen zusammentreffen. Ich empfinde mehr und mehr Verständnis für diese Position. Was nicht heißen kann, dass man die Rechte, die sich in Gesellschaft und Subkultur breitmacht, dulden soll. Sie trägt schließlich Politik im Sturmgepäck. Nazis boxen, aber den Wütenden zuhören – vielleicht der erste Schritt zur Verständigung zwischen Ost und West?
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