In die Krippe, für die Wirtschaft?

Erziehung Unsere Autorin erzählt vom Leben mit einem Kind im betreuungsfähigen Alter mitten in der Krise
Ausgabe 45/2020
Kann man sein Kind guten Gewissens in die Krippe schicken? Ist es nicht verlogen, dein Kind gegen jede mögliche und unwahrscheinliche Krankheit impfen zu lassen und gleichzeitig eine Ansteckung mit Corona zu riskieren?
Kann man sein Kind guten Gewissens in die Krippe schicken? Ist es nicht verlogen, dein Kind gegen jede mögliche und unwahrscheinliche Krankheit impfen zu lassen und gleichzeitig eine Ansteckung mit Corona zu riskieren?

Foto: Döhrn/Imago Images

Der erste Krippentag des eigenen Kindes erfüllt beinahe alle Eltern mit Sorge. Ist das Kind reif genug für die Kita? Ist man ein karrieregeiler Rabenvater, weil man das Kind so schnell aus der Hand gibt? Aber all diese Sorgen sind nichts gegen die Gedanken, die man sich macht, wenn man das Kind gerade jetzt in die Krippe schickt. Es nützt nichts, zu wissen, dass eine Covid-19-Erkrankung bei Kindern zumeist harmlos verläuft. Will man die statistischen Risiken am eigenen Kind testen?

Mein Sohn ist seit vergangenem Montag ein Krippenkind. Noch ist er in der Eingewöhnung, noch sitze ich in der Ecke, während er spielt, gegen andere Kinder stänkert oder von größeren Kindern getröstet wird. Aber bald wird er allein da sein, ich muss ja arbeiten. Wobei: „Müssen“ ist nicht das richtige Wort. Also gut, natürlich muss ich Geld verdienen, ich lebe nicht von gefilterter Luft und Liebe. Aber ich bin nicht unbedingt dazu gezwungen, in diesem Katastrophenmoment erwerbstätig zu sein. Ich habe keinen „systemrelevanten“ Job, bin keine Ärztin, Krankenschwester oder Kassiererin. Ich bin nur Autorin; mich braucht niemand.

In der Woche vor dem Krippenstart für meinen Sohn plagte mich deshalb immer wieder dieselbe Frage: Kannst du guten Gewissens dein Kind genau jetzt in die Krippe schicken? Ist es nicht verlogen, dein Kind gegen jede mögliche und unwahrscheinliche Krankheit impfen zu lassen und gleichzeitig eine Ansteckung mit Corona zu riskieren? Zugleich hegte ich die Sorge, dass die Kitas und Schulen geschlossen werden könnten. Homeschooling für den großen Sohn, Spiel und Spaß für den kleinen, und zwischendrin ein paar Kolumnen schreiben? Na ja, das Schlafen habe ich mir ja sowieso schon abgewöhnt.

Mein Mann scheint sich keine großen Sorgen zu machen, jedenfalls wirkt er recht ungerührt. Vielleicht ist es nur Maskerade, um mich nicht zu beunruhigen. Ich glaube nicht, dass er sich für egoistisch hält, weil er arbeiten geht. Irgendwie muss das Leben ja weitergehen. Ein Leben mit Corona – wir können doch nicht bis 2022 Krippen und Schulen schließen. Oder müssen wir?

Zwischenzeitlich sitze ich in der Krippe, lausche den Erzieher*innen beim Intonieren schräger Kinderlieder und brüte über der Frage, ob meine Risikoeinschätzung aufgeht. Noch gelten Kitas nicht als Superspreading-Schauplätze. Hatschi! Die kleine Sophie hat Johann direkt ins Gesicht geniest. Sophie, das macht man doch nicht! Die Erzieherin und ich lächeln gequält. Galgenhumor im Aerosolnebel?

Vor Jahren, als man in Polittalkshows noch debattierte, ob Mütter kleiner Kinder tatsächlich arbeiten sollten, galt die verlautbarte Devise: Am besten sind Kinder zu Hause, bei ihrer Mutter aufgehoben. Nur „bildungsferne“ Familien – man fügte gerne das Attribut „mit Migrationshintergrund“ hinzu – würden von Krippenplätzen profitieren. Auch jetzt gilt die Sorge den vermeintlich schwächsten Familien, ganz so, als sei Krisenresilienz das Ergebnis eines akademischen Grades. Tatsächlich erschienen mir „bürgerliche“ Mütter im Lockdown besonders vulnerabel, auch deshalb, weil man selbstverständlich von ihnen erwartete, Kind, Karriere und Corona mit einem (zerknirschten) Lächeln zu schaukeln. Mutti meistert die Krise!

Während ich tippe, meldet sich die Krippe: Eine Mutter wurde positiv auf Covid-19 getestet. Was heißt das für die Gruppe des Kindes? Wird die Krippe nun geschlossen? Das Gesundheitsamt hat sich noch nicht gemeldet. Sollte ich wollen, dass die Kita schließt? Ich weiß nicht, was ich wollen soll.

Marlen Hobrack kam 1986 in Bautzen zur Welt. Sie lebt mit ihrem Mann und ihren beiden Kindern in Leipzig. Als Autorin begann sie in der Freitag-Community, heute ist sie freie Journalistin für verschiedene Medien – und nun auch unsere Kolumnistin

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Geschrieben von

Marlen Hobrack

Was ich werden will, wenn ich groß bin: Hunter S. Thompson

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