Der literarische Herbst ist da, und mit ihm fallen die Skandale und Skandälchen wie die Blätter von den Bäumen. Während Slavoj Žižeks Eröffnungsrede für die Frankfurter Buchmesse Empörung auslöste und sich die literarisch interessierte Welt fragen musste, wie in der Sprache der Literatur eine Antwort auf Hass und Terror formuliert werden könnte, braute sich in Leipzig ein Aufreger kleineren Maßstabs zusammen, der gleichwohl die Freiheit des Wortes und der Schreibenden betrifft. 33 Autoren unterschrieben einen Protestbrief gegen den Auftritt Alice Schwarzers beim Literarischen Herbst in Leipzig, wo sie ihre Autobiografie vorstellen möchte. Die Initiatoren werfen Deutschlands bekanntester Feministin vor, sie sei verantwortlich für „transfeindliche, rassistische und misogyne Aussagen und Publikationen“.
Ich verfolge seit ziemlich genau 25 Jahren feministische Debatten; dass ich eines traurigen Tages Alice Schwarzer gegen den Vorwurf der Misogynie verteidigen müsste, hätte ich mir nicht träumen lassen. Aber hier stehen wir nun. Das Framing als „transfeindlich“ dient in feministischen Debatten schon seit Jahren dazu, insbesondere Feministinnen zu diffamieren (Klingt verwirrend? Ist es auch!). Transfeinde sind nämlich nicht die, die Menschen ins Gesicht boxen, sondern beispielsweise jene, die fragen, warum ausgerechnet die Zahl von Frauen mit Genderdysphorie so sprunghaft angestiegen ist und ob das nicht eine Folge patriarchaler Kultur sein könnte. Und Schwarzers „Rassismus“? Die Verfasser des Briefes machen sich nicht die Mühe, den Vorwurf zu elaborieren. Protest braucht keine Fakten, er muss sich nur richtig anfühlen. Ich nehme an, man hat einfach die drei bösesten Begriffe zusammengesucht, um deutlich zu machen, was für eine gefährliche Person droht, Leipzig einzunehmen.
Ist eine ältere Cis-Frau nicht divers genug?
„Wie passt das ins Programm einer sonst divers kuratierten Veranstaltung?“, fragt der Brief. Man stockt hier zunächst, scheint die Einladung einer älteren Cis-Frau ja nicht primär gegen die Idee der Diversität zu verstoßen. Und was wäre diverser, als eine abweichende Meinung? Tatsächlich fungiert „divers“ als identitätspolitisches Codewort, es geht friedlich und vielfältig zu, und man impliziert womöglich, von Schwarzer gehe eine Gefährdung sorgfältig kuratierter Safe Spaces aus. Umgekehrt sei ein produktiver Dialog von der Veranstaltung nicht zu erwarten, behaupten die Initiatoren. Man muss es noch einmal betonen: Schwarzer will ihre Autobiografie vorstellen – was gäbe es da produktiv zu diskutieren?
Auch mich erreichte der Aufruf, ich möge meine Unterschrift unter den offenen Brief setzen. Ich befürchte, ich schrieb daraufhin eine ziemlich unhöfliche E-Mail an die Initiatoren. Ich muss mich verteidigen: Ich hatte soeben Zeitungsberichte über den Angriff der Hamas auf israelische Zivilisten gelesen; ich verdaute noch die Tatsache, dass Mörderbanden ganze Familien ausgelöscht und Kinder geköpft und vergewaltigte Frauen einem geifernden Mob vorgeführt hatten. Ich hätte gerne meine Unterschrift unter einen offenen Brief mit einer Solidaritätsadresse in Richtung der israelischen Gewaltopfer gesetzt, der zugleich die misogynen, antisemitischen Mörderbanden und ihre gegenderten Gewaltakte verurteilt hätte.
An der Einschränkung der Meinungsfreiheit ist nichts links
Das ist nun aber whataboutism, könnte man sagen. Vielleicht ist es schlicht der verzweifelte Versuch, Maß und Mitte bei der Beurteilung politischer Fragen zu finden. Also etwa unterscheiden zu können, zwischen missliebiger Meinung und offenem Hass, zwischen gefühlter Gewalt und realer Gewalterfahrung. Aber misgendern ist auch Gewalt, mag es mir entgegenschallen. Womit wir wieder bei der Maßlosigkeit wären.
Nun muss man Schwarzers Position etwa in der Ukraine-Frage nicht teilen, wir leben, noch, in einer pluralistischen Demokratie. Sie ahnen vermutlich, wie gerne ich Ihnen nun mit dem Bonmot Rosa Luxemburgs käme, wonach Freiheit ja immer die Freiheit der Andersdenkenden ist. Schwarzer mal eben ihre Meinungsfreiheit abzusprechen – und nichts anderes ist der Protest gegen Meinung, die absolut und in jeder Form vom Grundgesetz gedeckt und in keiner Weise justiziabel ist – gelingt nur, wenn man sie sogleich mit dem Belzebub oder Adolf Hitler persönlich gleichsetzt. Wenn Sie jetzt lachen, haben Sie Facebook oder X noch nie von innen gesehen. Sie Gesegneten!
Ich bin es übrigens leid, dass solcherlei Protestnoten und Maßlosigkeiten einem „linken Mob“ angelastet werden. An der Einschränkung der Meinungsfreiheit ist nichts, aber auch gar nichts links. Im Übrigen wäre ich sehr dankbar, wenn feministische Aktivist*innen nicht jedes rechte Klischee über „Wokistan“ bedienen würden. Erfreulich ist, dass die Veranstalter des Literarischen Herbstes gelassen auf den offenen Brief reagieren, statt auf Basis einer Ausladung mit anschließender Wieder-Einladung den völligen Gesichtsverlust zu erleiden. Das lässt immerhin für die Zukunft diverser und pluralistischer literarischer Formate hoffen.
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