Ukraine-Krieg Auf einer Demo forderten Tausende einen sofortigen Waffenstillstand. Alice Schwarzer und Sahra Wagenknecht wollen eine neue Friedensbewegung. Gegner sehen „Rechtsoffenheit“
Wagenknechts Rhetorik entzündet Jubel und Buh-Pfiffe, je nachdem
Foto: Steffi Loos/Getty Images
Die Fronten sind klar: blaugelbe Nationalflaggen gegen weiße Friedenstauben auf blauem Grund. Die einen sehen in Waffenlieferungen und Aufrüstung das Gebot der Stunde, die anderen fordern sofortige Verhandlungen mit Wladimir Putins Russland. Beide „Lager“ sagen nicht, mit welchem konkreten Ziel sie ihre Forderungen verknüpfen – etwa, ob die Ukraine sich mit deutschen Leopard-Panzern die Krim zurückholen oder mit deutscher Diplomatie dazu genötigt werden soll, kampflos Territorium zu verlieren.
Beide bombardieren einander mit zum Teil wortgleichen Vorwürfen: Naivität, Dummheit, Empathielosigkeit, Zynismus, Faschismus, Geschichtsvergessenheit. Und beide operieren mit Angst – die einen mit der Angst vor weiterer Eskalation und Atomkrie
d Atomkrieg, die anderen mit der Angst vor Wladimir Putins nimmersattem Imperialismus. Es gibt nur einen Unterschied: Das blau-gelbe Lager wird von den meisten Medien demonstrativ favorisiert.Also begebe ich mich zu den anderen, zum „Aufstand für den Frieden“ am Brandenburger Tor. Vor fast genau einem Jahr bin ich dieselbe Strecke geradelt, durch den Tiergarten, zur Friedensdemo rund um die Siegessäule. Damals strahlte die Sonne, und alle, die gegen den Krieg waren, standen zusammen, einige mit Tränen in den Augen. Manche trugen schon damals Blaugelb und forderten Waffenlieferungen, andere hielten Friedenstaubenplakate in die Höhe und mahnten gegen Militarisierung. Ich wusste nicht, wer richtig liegt, und im Grunde weiß ich es immer noch nicht. Ergebnislos sichte ich widersprüchliche Informationen, einen unablässig wachsenden Haufen von Fakten, Behauptungen, Interpretationen, Wünschen, Zuschreibungen und Gefühlen.Verwirrung um rinks und lechts Ein gemeinsamer Marsch wäre heute kaum unvorstellbar. Die Friedenswilligen sind gespalten. Aus der deutschen Lehre „Nie wieder Krieg“ ziehen sie verschiedene Konsequenzen. Rund um den Jahrestag des Kriegsbeginns nötigen Schlagzeilen und Ukraine-Krieg-Dauersendungen zur Parteinahme. Wer dem Aufruf von Frauenrechtlerin Alice Schwarzer und Linken-Politikerin Sahra Wagenknecht folgt, macht sich angreifbar. Anders als die regierungsnahe Solidaritäts-Kundgebung, zu der unter anderem das staatlich geförderte Zentrum liberale Moderne (LibMod) am 24. Februar aufgerufen hat unter dem Motto „Das Ungeheuerliche nicht hinnehmen“, kommt der friedensbewegte „selbst erklärte Aufstand“ (Tagesthemen) in den Leitmedien weniger gut weg. Der grüne LibMod-Geschäftsführer Ralf Fücks bescheinigt der tags darauf stattfindenden, besser besuchten Konkurrenzveranstaltung, es handle sich „nur um eine kleine laute Minderheit“.So klein kann sie derweil nicht sein – laut einer aktuellen Umfrage glaubt die Mehrheit der Deutschen, dass sie durch Waffenlieferungen zur Kriegspartei werden. Im Mittelpunkt der Berichterstattung steht jedoch nicht das Eskalationsrisiko, sondern die angebliche „Rechtsoffenheit“ der Schwarzer-Wagenknecht-Initiative. Man fühlt sich erinnert an die Proteste gegen Corona-Maßnahmen: Ein Dauerfeuer der Eindeutigkeit dröhnt die Zweifler nieder. Einem Spiegel-Artikel, der mit elf (!) namentlich Unterzeichnenden selbst einem Manifest ähnelt, „gilt“ Sahra Wagenknecht „als Schirmherrin der ‚Querfront‘“, also des gefährlichen Zusammenschlusses von extrem Linken und Rechten.Der Ex-weit-linke und jetzt weit rechte Jürgen Elsässer hat sie in seiner Person schon vollzogen und mobilisiert freudig zur „Querfront für den Frieden“. Und die Medien rufen an die Gesinnungsfront, da auch Verschwörungsfreunde und Demokratiefeinde sich gegen Waffenlieferungen aussprechen und manche von ihnen den russischen Präsidenten verehren. Wer mit den Falschen für Frieden auf die Demo geht, hat einen Ruf zu verlieren.Endlich sagt es jemandUnwillkürlich blicke ich mich in der Menge um: Sind irgendwo Faschisten? (Er)Kennt mich jemand? Als „Querfront“-Anhängerin möchte ich nicht gelten. Droht eine Kamera? Am liebsten würde ich mir ein Schild um den Hals hängen mit der Aufschrift „Presse“: Ich will ja nur berichten! Und dabei nicht in die rechte Ecke geschoben werden – ginge das? Der Trend bei ZDF & Co., mit dem abfällig geraunten, nur scheinbar objektiven Zauberwort „umstritten“ zu operieren, beunruhigt mich im Moment mehr als Elsässers Möchtegern-Querfront. Umso beeindruckender ist, wie viele trotzdem gekommen sind. Die Veranstalter sprechen von 50.000, die Polizei zählt 13.000.Leider mögen sie keine Presse – kaum jemand will mit mir reden. „Auch nicht für ein linkes Medium?“, hake ich nach. „Ach, was heißt schon noch links oder rechts“, winkt ein älterer Mann ab, seine Begleitung zieht ihn rasch weg von der Journalistin. Tja: Ist es links, Kampfjets zu fordern? Und rechts, für Verhandlungen zu demonstrieren? Vom Rednerpult aus stellt Sahra Wagenknecht in empörtem Tonfall ähnliche Fragen: „Seit wann ist der Ruf nach Frieden rechts? Und Kriegsbesoffenheit ist dann wohl links?“Zu sehen sind vor allem über 50-jährige, unauffällig bis bunt Gekleidete, dem Anschein nach eher untere als obere Mittelschicht. Sie haben besorgte Gesichter, tragen unschöne Rucksäcke über Thermojacken und frieren im Schneeregen. Zwischendurch applaudieren sie dem US-amerikanischen Ökonom Jeffrey Sachs, Direktor des UN Sustainable Development Solutions Network, der per Videogrußwort dem Westen eine Mitschuld gibt für den Krieg in der Ukraine.Auf dem matschigen Boden abseits der Straße ist es nicht ganz so drängelig, der Lautsprecher trägt gut, Wagenknechts Rhetorik entzündet Jubel und Buh-Pfiffe, je nachdem. Sie versteht ihr Handwerk. Endlich sagt‘s eine, die gehört wird, scheint das Volk zu denken: Endlich nicht mehr mit den Sorgen allein. Man sieht ein paar deutsche Fahnen, aber viel mehr Friedenstauben. „Diplomatie statt Waffenlieferungen“ steht auf der Binde des Rednerpults. Nazis seien nicht willkommen, machen Schwarzer und Wagenknecht gleich zu Beginn der Kundgebung klar.Nazi? Verschwörungstheoretiker?Obwohl die feuchte Kälte in die Knochen zieht, harren die Demonstrierenden aus, einige mit zu Transparenten umfunktionierten Schirmen. Vor mir sehe ich einen jungen Elektriker im roten Arbeitsanzug dicht bei seinem Vater oder Chef, neben mir eine Familie, Mutter, Oma, Schwiegersohn am mit Schlammspritzern verzierten Kinderwagen. Ich frage, ob sie mit der Presse reden. Zögern. Vorsichtiges Nicken. Warum sind sie gekommen? „Um für den Frieden zu demonstrieren“, antwortet die Frau schlagfertig. Die negative Berichterstattung hält sie nicht ab? „Ich überprüfe lieber selbst , ob da was dran ist“, sagt sie, „und was heißt schon Nazi? Kann jemand, der gegen den Krieg ist, wirklich rechtsextrem sein?“Irgendwo in der Menge geht auch ein Bekannter, gelernter DDR-Bürger und Handwerker. Per SMS informiert er mich, dass keine Nazis in Sicht seien. Seit der Corona-Zeit – er wollte sich nicht impfen lassen – hält er, zuvor begeisterter Deutschlandfunk-Hörer, die Demokratie für fake und glaubt dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk nichts mehr, bedient sich stattdessen bei „alternativen“ Medien. Ich mache mir Sorgen, dass er in die Verschwörungsszene abrutscht und versuche, den Kontakt zu halten. Die Demo findet er gut: „sehr gelungene Mischung der Redner“, vor allem Sachs gefällt ihm, da der sachlich „die Ursachen des Krieges“ erkläre. Überhaupt sei es „eine tolle Erfahrung, zwischen so vielen Menschen zu sein, denen es ähnlich geht wie mir“. Aber: „Schlimm, dass die Medien nichts anderes zu tun haben als die Berichterstattung mit angeblichen Naziteilnehmern zu beginnen.“ Das sei „gezielte Hetze.“Ohne GesinnungsprüfungTatsächlich scheint nicht wenige Kollegen von Spiegel bis taz am meisten zu beunruhigen, dass es „keine Gesinnungsprüfung“ gibt, wie Ex-Linkspolitiker Oskar Lafontaine süffisant versichert hatte. Die taz machte daraus „Rechtsoffen - ein Manifest für alle“. Dass Rechte die Demo „kapern“ könnten, fürchtete auch die Süddeutsche Zeitung, um danach – enttäuscht? – festzustellen: „Rechtsextremisten gelingt es nicht, die Kundgebung zu prägen“. „Jeder ist willkommen, der reinen Herzens für Frieden und Verhandlungen ist“, lädt Wagenknecht ein. Also auch Reichsbürger, Nazis, AfD-Leute? „Wir bitten auf das Mitbringen von Parteifahnen und Nationalfahnen jeder Art zu verzichten“, steht im Demo-Aufruf, „rechtsextreme Flaggen, Embleme und Symbole haben auf unserer Kundgebung keinen Platz.“ Das sei doch „selbstverständlich“, findet Wagenknecht.Dem Historiker Johannes Varwick reichte das nicht, er hat seine Unterschrift vom Manifest zurückgezogen. An der der Kundgebung nimmt er dennoch teil. Und obwohl die Linken-Bundestagsabgeordnete und Versammlungsleiterin Sevim Dağdelen mit anderen Demonstrierenden dem rechtslastigen Elsässer den Zugang zur Demo versperren wollte, sind auch „Vertreter und Anhänger des nationalistischen und rechtsextremen Spektrums“ dabei, wie der Deutschlandfunk weiß.Schon in den frühen 1980er Jahren wurden Rüstungsgegnerinnen diffamiert. „Damals waren die Grünen noch dabei“, erinnert sich Schwarzer. Sie will eine Friedensbewegung reloaded. 1981 kamen in den Bonner Hofgarten 300.000 Menschen gegen den sogenannten Nato-Doppelbeschluss und die Stationierung US-amerikanischer Mittelstreckenraketen in Europa. 1982 ging es am Berliner Wittenbergplatz los unter dem Motto „Aufstehen für den Frieden“ – der Name des aktuellen Aufrufs knüpft an die Hochzeit der Friedensbewegung an. Damals war trotz aller Streitpunkte Konsens: „Keine neuen Atomwaffen in Europa. Abrüstung in West und Ost“. Diese Einigkeit hat der grünneoliberale Wind längst verweht.Der grüne Wirtschaftsminister Robert Habeck warf den Initiatoren der Aufstands-Demo „politische Irreführung der Bevölkerung“ vor. Ob die regierungsseitig ständig wiederholte Behauptung, die Ukraine verteidige „unsere Werte“ und „die Freiheit“, womöglich ebenso irreführend ist – diese Frage stellt man in den Leitmedien nicht. Auch nicht rbb-Moderatorin Sabina Matthay im Gespärch mit Ralf Fücks – im Gegenteil: der Podcast wirkt wie ein LibMod-fabriziertes PR-Produkt. Und Fücks mangels kritischer öffentlich-rechtlicher Hinterfragung sehr überzeugend.Ein grünen-naher Bekannter aus dem blaugelben Lager zeigt sich denn auch überzeugt: „Europa alleine wäre derzeit nicht in der Lage, jemanden wie Putin glaubwürdig abzuschrecken.“ Er klingt, als könne er das noch im Schlaf herbeten. Aufrüstung sei „unumgänglich“ – ohne sie könnten „wir unsere freiheitliche Art zu leben, nicht schützen“. Er habe als DDR-Bürger schon einmal „unter sowjetischem (russischem) Einfluss gelegt“, das brauche er „nicht noch mal“. Aber wie wäre es, schlägt er vor, „die Rüstungsindustrie zu verstaatlichen“? Keine schlechte Idee. Das Verwirrende ist ja: Im Grunde könnten beide „Lager“ ihre Slogans tauschen, da es sich um verschiedene Aspekte derselben Sache handelt: Der Krieg ist ungeheuerlich. Menschen leiden, Konzerne profitieren. Das Töten muss aufhören.Aber wie?Da gehen die Meinungen auseinander. Oder vielmehr: Die Entscheidung für eine der Antworten ist zur Glaubensfrage geworden. Denn es gibt kaum eine Gewissheit außer der, dass Waffen töten – und das Fehlen von Waffen die Opfer dem Angreifer ausliefert. Sicher dürfte auch sein, dass weder die deutschen Pazifisten noch die olivgrünen Militaristen den Krieg in Europa beenden werden. Obwohl keiner den Weg 'raus dem Krieg wissen kann – auch das erinnert an die Fronten in den Corona-Diskussionen – , werden die jeweiligen Behauptungen und Befürchtungen umso lauter als Gewissheiten kommuniziert. Und Andersmeinende ohne viel Federlesens als rechts bezichtigt.„Darf ich Ihnen eine Frage stellen?“, wende ich mich an einen der Polizisten im Einsatzwagen. „Dürfen Sie, aber ich werde nicht antworten“, kommt es launig zurück. „Haben Sie irgendwo Nazis gesichtet?“, will ich dennoch wissen. „Die Gesinnung kann man von außen nicht erkennen“, brummelt der Beamte. Dann guckt er so scharf, als stelle er auch mich unter Präventivverdacht. Offenbar wäre ihm eine Gesinnungsprüfung lieber gewesen. Aber stimmt schon: Man sieht einem Demonstranten den Nazi nicht unbedingt an. Nur gilt das für alle Bürger, ob sie auf Demos gehen oder nicht.