Wer andere belästigt, wird gesperrt

Gaming Laut WHO können Videospiele in Zeiten der Isolation Gemeinschaft stiften. „Kind words“ scheint das ideale Spiel
Ausgabe 17/2020

Freundliche Worte tippen in einem „safe space“ – das klingt doch ganz nett, oder? Genau darum geht es im Computerspiel Kind Words. Ich teste es als wenig passionierte Gamerin, eher als interessierte Medienwissenschaftlerin. Worum geht es? Im Spiel schreibt man Briefe an Unbekannte, die ihre Probleme und Sorgen in ein paar Zeilen darlegen. Der düstere Ton vieler Nachrichten steht im Kontrast zu der kindlich-naiven Optik, sie erinnert ein wenig an die Kinderserie Lauras Stern.

Mein kleiner Avatar sitzt in einem Raum am Schreibtisch. Ab und an streckt ein niedliches Rentier seinen Kopf durch das Fenster. Es bringt Post. Ella, so heißt es, erinnert sogleich an die Regeln des Spiels: Es soll ein sicherer Ort sein. Wer andere belästigt oder beleidigt, wird gesperrt.

Ich schaue die vorhandenen Nachrichten durch, vielleicht kann ich jemandem helfen. Bereits die erste Nachricht ist dunkel und schwer. Jemand zweifelt an seinem Leben, ganz allgemein, und schon zweifle ich an meiner Eignung für das Spiel. Ich klicke weiter. Endlich taucht ein Problem auf, bei dem ich helfen kann. Es geht um Fernbeziehungen. „Am Ende musst du es einfach wagen, in einer Beziehung gibt es doch nie eine Erfolgsgarantie“, tippe ich. Ob das der Person nun wirklich hilft?

Tote Wale am Strand

Manche Funktion im Spiel erinnert an existierende soziale Netzwerke: Das Fragenstellen kennt man von Reddit. Wie auf Twitter bleibt für Frage und Antwort nur begrenzter Zeichenplatz. Wer eine Botschaft an alle Spieler senden will, kann etwas „Aufmunterndes“ tippen. Man kennt das von Instagram. Kind Words wirkt wie die rudimentäre Form eines sozialen Netzwerkes, in dem alle anonym bleiben. Zugleich scheint es geheilt von all der Social-Media-Unbill: von der Selbstinszenierung, der Jagd nach Likes, dem politischen Hass. Co-Entwickler Ziba Scott beschrieb es der Washington Post so: das Spiel sei politisch, auch wenn es sich nicht so anfühle. Es verhindert wohl auch recht zuverlässig Mobbing und Trolling. Zwar könnte jemand einen anderen trollen, ihm bliebe aber das Publikum verwehrt. Und Publikumsreaktionen ernähren den Troll.

Kind Words erinnert an einen virtuellen Kummerkasten. Im Netz findet man Beschreibungen wie „ganzheitlich“. Das Spiel versucht soziale Interaktion auf dem Gebiet des Gamings auszubauen, wie beispielsweise Hideo Kojimas Death Stranding. Visuell und was das Ziel des Spiels anbelangt, könnten sich die Spiele nicht stärker unterscheiden. Death Stranding zeigt ein dystopisches Szenario nach der Massenvernichtung der Menschheit. Wenige Überlebende wandeln durch eine Welt, in der tote Wale an Strände gespült werden. Ziel ist es, Kontakte zu anderen Überlebenden zu knüpfen, ihnen Gegenstände oder zum Beispiel Möglichkeiten der Flussquerung zu hinterlassen. Das Spiel basiert, jedenfalls scheinbar, auf Kooperation. Tatsächlich begegnet man den Mitspielern, anders als in anderen Online-Spielen, in denen man sich beispielsweise zu einer Gilde zusammenschließen kann, überhaupt nicht. Außerdem belohnt das Spiel das kooperative Handeln, das letztlich Mittel zum Zweck ist.

Ganz anders Kind Words, das das soziale Gaming tatsächlich in gänzlich neue Sphären führt: Der Spieler erhält keine Belohnung. Er hilft, weil er Freude daran hat oder mit anderen in Kontakt treten will. Ob man zehn oder tausend Nachrichten tippt, verändert die Spielwelt nicht. Man bekommt nur ein gutes Gefühl.

Kind Words scheint wie gemacht für die Corona-Pandemie, in der Menschen nicht nur soziale Distanz wahren müssen, sondern vielfach auch vereinsamen, traurig sind. Was jüngst sogar die Weltgesundheitsorganisation (WHO) dazu veranlasste, ihr Urteil über Computerspiele zu revidieren: Sie könnten in Zeiten des Social Distancing Gemeinschaft und Nähe stiften. Das zuvor beklagte Suchtpotenzial vieler Spiele spielt nun keine Rolle mehr.

Hat Kind Words Suchtpotenzial? Ehrlich gesagt, kann ich mir nicht vorstellen, nach Feierabend an meinem PC zu sitzen und andere Menschen psychologisch zu beraten. „I feel a weird level of responsability playing this game“, sagt ein Spieletester auf Youtube, und ich verstehe sofort, was er meint. So viel Verantwortung erzeugt einen Modus der Ernsthaftigkeit, der vom Spiel intendiert ist. Aber man muss schon einen größeren Helferkomplex haben, um dieses „Spiel“ mit Gewinn zu spielen.

Der digitale Freitag

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Geschrieben von

Marlen Hobrack

Was ich werden will, wenn ich groß bin: Hunter S. Thompson

Marlen Hobrack

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