Bergkarabach: Für die Armenier ist die Exklave in Aserbaidschan noch lange nicht verloren
Revanche In Jerewan herrscht nach dem verlorenen Ein-Tage-Krieg Armeniens gegen Aserbaidschan um die Region „Arzach“ im September eine erstaunlich gelöste Stimmung. Das Gebiet sei mitnichten aufgegeben. Freitag-Autor Martin Leidenfrost war dort
Als Souvenir für seine nach langer wilder Ehe heiratenden Freunde nahm unser Reporter eine Oma-Opa-Denkmalnachbildung mit
Foto: Brendan Hoffman/Getty Images
Dieser Tage suchte ich für prominente Wiener Freunde, die sich nach 30 Jahren wilder Ehe das Jawort geben wollten, ein Hochzeitsgeschenk. Die beiden waren im November 1993 zusammengekommen als Kriegsberichterstatter in Stepanakert, der Hauptstadt der von Aserbaidschan abgespaltenen Armenier-Republik Bergkarabach. Den ersten Karabach-Krieg gab es Anfang der 1990er Jahre, er brachte einen Triumph für die Armenier. Nach dem zweiten Krieg 2020 ging der dritte Karabach-Krieg vom 19. bis zum 20. September 2023 und endete mit der Rückeroberung der Region durch Aserbaidschan. Kurz vor der Hochzeit, genau 30 Jahre nach Beginn der Romanze, flog ich nach Jerewan. Mein Ziel: ein anrührendes Geschenk aus Karabach zu finden, von wo die armenische Bevölkerung – gut 100.000
g ich nach Jerewan. Mein Ziel: ein anrührendes Geschenk aus Karabach zu finden, von wo die armenische Bevölkerung – gut 100.000 Menschen – inzwischen geflohen war.Nachdem ich auf meinen fünf Armenien-Reisen seit dem zweiten Karabach-Krieg 2020 nichts anderes wahrgenommen hatte als Existenzangst, Fatalismus und innere Zerrüttung, erwartete ich an jenem regenwarmen Novembertag den endgültigen Tiefpunkt nationaler Depression. Zu meiner Überraschung fand ich vergleichsweise gute Laune vor, ja, geradezu Erleichterung. Als wäre man in Armenien froh – befreit von der Bürde der international nicht anerkannten Abspaltung Karabach –, nun endlich frei von der Leber weg reden zu können. So stieß ich auf einen Armenier, der die drei Kriege um die „heilige armenische Erde“ der Exklave ohne Scheu „überflüssig“ nannte: „Wir haben 2020 sinnlos 5.000 unserer Kinder geopfert.“Die Rolle von Premier Nikol PaschinjanDer Mann war ein Anhänger des pro-westlichen Premiers Nikol Paschinjan, der mit seiner Anerkennung der territorialen Oberhoheit Aserbaidschans die Aufgabe Karabachs vorbereitet hatte. Er hielt Paschinjan einen auf der „weitgehenden Ausrottung der Korruption“ beruhenden Wirtschaftsaufschwung zugute wie die künftige Aufrüstung Armeniens durch die Europäische Union. Dabei irrte er: Die Aufnahme Armeniens in die „Peace Facility“ der EU war bisher bloß ein Vorschlag der pro-armenischen Regierung Frankreichs gewesen.Nebenbei interessierte mich das Thema Antisemitismus. Einerseits teilen Armenier und Juden die Erfahrung eines Völkermords, andererseits gaben in einer fünf Jahre alten Pew-Research-Studie 33 Prozent der armenischen Befragten an, Juden nicht als Mitbürger zu akzeptieren. Ein Bethaus der weniger als tausend Seelen starken jüdischen Gemeinde Armeniens wurde drei Tage vor dem 7. Oktober, dem Tag der Hamas-Attacke, mit blutähnlicher Farbe beschmiert. Die Waffenlieferungen Israels an Aserbaidschan hatten viel verdorben.Ich fragte die in der Ukraine geborene Vorsitzende der jüdischen Gemeinde Armeniens per SMS, ob sie immer noch an ihrem Diktum festhielt, „es gibt keinen Antisemitismus in Armenien“. Rima Petrowna Varschapetjan-Feller schrieb zurück: „Früher war es gewiss ruhiger, jetzt ist das anders. Es gibt eine Kategorie von Leuten, die kein Mitgefühl für Israel aufbringen, aber auch die Hamas nicht unterstützen.“ Judenfeindliche Tiraden bekam ich jedenfalls in Jerewan nicht zu hören.Stepanakerter Denkmal für „Oma und Opa“Ich ging auf den Freiluftmarkt „Vernissage“. Die Auswahl von Souvenirs mit Karabach-Bezug war bescheiden: Man sah Kunststoffmodelle zweier Klöster, Darstellungen der schon 2020 gefallenen Kirche von Schuschi, Karabach-Fähnchen und ein per USB-Kabel aufladbares Karabach-Feuerzeug. Am verbreitetsten waren Nachbildungen des berühmten Stepanakerter Denkmals für „Oma und Opa“. Ich nahm schließlich zwei silberne Halskettchen mit der armenischen Aufschrift „Arzach“ und „Oma und Opa“. Immerhin könnten meine Wiener Freunde nach 30 Jahren wilder Ehe auch schon Großeltern sein.Sobald ich auf dem Markt ankam, lief mir ein Bekannter aus der drittgrößten armenischen Stadt Wanadsor über den Weg, ein feingliedrig-eleganter 69-jähriger Jurist. Der Gründer des Armenischen Verfassungs-Rechtsschutz-Zentrums hatte eine ganze Generation von Lehrern geschult, ein Netz von sechs Menschenrechtsbibliotheken aufgebaut und Zehntausenden diskriminierten Pensionären vor Gericht zu ihrer Rente verholfen. Gework Manoukian war auch ein Karabach-Enthusiast. Er hatte in den 1990er Jahren im Team des ersten „Präsidenten“ Karabachs, Robert Kotscharjan, gearbeitet, der später ein für seine Rohheit gefürchteter Staatschef Armeniens wurde. Manoukian sympathisiert anfangs mit Paschinjans Partei „Zivilvertrag“, hielt ihn aber bald für einen „Verräter“ und fürchtete um die Existenz Armeniens.Als ich ihm nun erklärte, ein Geschenk aus Karabach zu suchen, „wo ich leider nicht mehr hinkomme“, unterbrach er mich sofort: „Sagen Sie das nicht! Wir holen’s uns zurück!“ Er zeigte sich felsenfest von einer baldigen Rückkehr der Armenier nach Karabach überzeugt. Er lächelte dabei. Ich konnte mich nicht erinnern, dass er vor anderthalb Jahren – während eines bleischweren Drei-Stunden-Interviews in der Wanadsorer Menschenrechtsbibliothek – gelächelt hätte.„Armenier schlecht, Aserbaidschaner gut“Am Abend war ich mit zwei Karabacherinnen verabredet. Die eine, Armine Martorisjan, hatte ich drei Tage vor dem verlorenen Eintageskrieg in Jerewan interviewt. Die pro-europäische Journalistin erregte Aufsehen, da sie Russland als mit Aserbaidschan und der Türkei verbandelte „Bedrohung Armeniens“ bezeichnete, unter anderem mit dem Argument, der Kreml wäre von Turkologen durchsetzt (Putins Sprecher Dmitri Peskow liest Zeitungen tatsächlich im türkischen Original). Armine hatte die in Karabach stationierten Friedenstruppen Russlands als feindselig erlebt, „dort dienen nur wenige Slawen, dafür viele Burjaten und Dagestaner, die mit Aserbaidschan sympathisieren“.Bis auf Armine selbst hatte ihre ganze Familie bis zuletzt in Stepanakert gelebt, Ende September flohen alle, der nächtliche Fluchtkonvoi ähnelte auf einem Familienfoto einem dünnen langen Lavastrom. Armine wusste nur von einem einzigen in Stepanakert verbliebenen Armenier: In einem aserbaidschanischen Video erkannte sie ihren versoffenen Nachbarn, der auf Russisch „Armenier schlecht, Aserbaidschaner gut“ verkündete – mit Wodkaflasche in der Hand.Armine kam mit ihrer älteren Schwester Nune, bis zum 19. September Hochschulpädagogin und Inhaberin eines Hostels in Stepanakert. Mit dem Hinweis, dass damit in meiner Heimat Trauer ausgedrückt werde, überreichte ich beiden Schwestern einen Strauß weißer Rosen. Nune entgegnete entschieden: „Wir nehmen die Blumen, aber richtig ist das nicht.“Später sollte mir Nune erklären, dass „niemand das Bumerang-Gesetz abgeschafft hat“, wonach Aserbaidschaner wohl kaum in armenische Häuser einziehen werden, „da sie selbst spüren, sie wären für den Rest ihres Lebens verflucht“. Sowohl der Westen als auch Russland würden früher oder später die Konsequenzen ihres Verrats begreifen und Aserbaidschan mit gewaltlosem Druck zum Abzug aus Bergkarabach zwingen. Nunes unmittelbare Reaktion auf mein Beileid war exakt dieselbe wie jene von Gework Manoukian: „Wir holen’s uns zurück!“ Auch diese vertriebene Karabacherin lächelte sehr selbstgewiss und sagte: „Wir kehren zurück. Nicht irgendwann. Bald!“
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