Ein über Jahrzehnte schwelender Territorialkonflikt erreicht ein finales Stadium, indem er gewaltsam gelöst wird. Äußeres Zeichen ist die vollständige Einnahme der „Republik Bergkarabach“ durch Aserbaidschan, dessen Fehde mit Armenien um jenes Gebiet zuweilen eingefroren, nie aber beigelegt war. Sie hatte das Zeug zur schweren Eruption, wie der Krieg zwischen den Konfliktparteien im Herbst 2020 und der Angriff Aserbaidschans auf Restkarabach am 19. September zeigte.
Grund für die jetzige Finalität ist jedoch nicht allein die Schlagkraft der Armee des Siegers, an der die Gegenwehr aus Bergkarabach und Armenien zerschellt ist. Ausgedient hat zugleich ein postsowjetisches Konfliktmanagement, wie es seit den 1990er-Jahren bestand und vorrangig von
die Schlagkraft der Armee des Siegers, an der die Gegenwehr aus Bergkarabach und Armenien zerschellt ist. Ausgedient hat zugleich ein postsowjetisches Konfliktmanagement, wie es seit den 1990er-Jahren bestand und vorrangig von Russland ausging.Lenins Nationalitäten-PolitikWie explosiv die Lage um Bergkarabach sein konnte, war unmittelbar vor und erst recht nach dem Zerfall der Sowjetunion 1990/91 deutlich geworden. Zu deren Lebzeiten hatte es einen Autonomiestatus für Regionen wie diese gegeben, in denen Minderheiten lebten und ein gewisses Maß an nationaler Selbstbestimmung beanspruchten. Das zu gewährleisten, notfalls durchzusetzen, oblag der UdSSR als zentralstaatlicher Autorität.Lenin war in seiner Nationalitäten-Politik der Auffassung gefolgt, dass ein Vielvölkerstaat dem Untergang geweiht sei, sollte er es unterlassen, Minderheiten – und seien sie noch so klein – Interessen und Rechte einzuräumen. Wer das versäume, ende im Sumpf der Sezession. So firmierte das Kerngebiet von Bergkarabach ab 1921 als autonomes armenisches Terrain in Aserbaidschan. Ähnlich verhielt es sich mit Abchasien in Georgien, das sich im März 1921 zunächst zur „Sozialistischen Sowjetrepublik Abchasien“ ausrief, dann aber mit einer Autonomie vorliebnehmen musste. Einen vergleichbaren Status besaßen im Kaukasus ab 1921 Adscharien und ab 1922 Südossetien als selbstverwaltete Oblaste innerhalb Georgiens. Die föderativen Befugnisse solcher Entitäten konnten bis zum eigenen Haushalt reichen – eine kontrollierte Autonomie sollte die eigenstaatliche Ambition auffangen.Diese Intention hatte sich erledigt, als die Sowjetunion Ende 1991 ihren Abschied nahm. Die daraus resultierende Souveränität aller 15 Sowjetrepubliken ließ das Bedürfnis nach nationaler Selbstbestimmung mit dem Willen der neuen Staaten nach territorialer Integrität kollidieren. Fast schon präventiv reagierten darauf die Südosseten, als sie im September 1990 die „Demokratische Sowjetrepublik“ ausriefen, und die Armenier in Bergkarabach, die sich ein Jahr später für unabhängig erklärten. Abchasien tat Gleiches 1992.Moskaus OVKS-Absage an Nikol PaschinjanDie Konsequenz bestand in Bürgerkriegen zwischen den Separatisten und neuen Staatsautoritäten, bis das Ausmaß an Leid und Zerstörung zum Innehalten zwang. Mitte der 1990er-Jahre mutierten die offen ausgetragenen zu eingefrorenen Konflikten. Georgien, Aserbaidschan, Armenien (Nachitschewan) oder Moldawien (Transnistrien) mussten hinnehmen, dass auf ihren Territorien quasi-souveräne Entitäten existierten, deren Status durch den Vermittler Russland ausgehandelt und garantiert war, wie das einst der Sowjetunion oblag – mit dem Unterschied, dass dazu nun Verträge statt einer Unionsverfassung legitimierten. Ein Instrument, diesem Modus Geltung zu verschaffen, waren unter anderem multinationale Truppen einer 2002 gegründeten Allianz des Vertrags über kollektive Sicherheit (OVKS).Heute fühlen sich daran noch Armenien, Belarus, Kasachstan, Kirgisistan, Russland und Tadschikistan gebunden, während Aserbaidschan, Georgien und Usbekistan ausgestiegen sind. Wenn man so will, hatten OVKS-Verbände die eingefrorenen Konflikte im Kaukasus als Status quo zu sichern, was im Fall Bergkarabach zuletzt bedeutet hätte, Aserbaidschan militärisch Einhalt zu gebieten. Dass es dazu nicht kommen würde, stand seit September 2022 fest, als sich der armenische Premier Nikol Paschinjan auf die Beistandsklausel nach Artikel 4 des OVKS-Vertrags berief, um im Grenzkonflikt mit Baku zu bestehen, und sich eine Absage aus Moskau einhandelte.