Mangelernährung Nicht erst seit der Hyperinflation können sich arme Menschen kein gesundes Essen leisten. Ernährungsminister Cem Özdemir würde das gerne ändern – und wird ausgebremst
Cem Özdemir traute sich was, nur ging das drei Tage vor Weihnachten ein wenig unter. „Auch in einem reichen Land wie Deutschland gibt es Ernährungsarmut“, schrieb der Bundesernährungsminister da in einem Gastbeitrag für die Welt. Der Grüne war das erste Regierungsmitglied, das das Ungeheuerliche derart deutlich formulierte: dass nämlich einkommensschwächere Menschen an Obst und Gemüse sparen müssen, um genügend Lebensmittel kaufen zu können, die einfach nur „schneller satt machen“.
Nicht nur Özdemirs Vorgängerin Julia Klöckner (CDU) hatte diese Tatsache noch konsequent ausgeblendet. „Hunger oder existenziellen Mangel“ gebe es in unserem Land nicht, beschwor sie in ihrer Antrittsrede 201
er Antrittsrede 2018 – es ist nicht überliefert, dass sie diese Sicht je korrigierte. Auch nicht, als ihr 2020 der Wissenschaftliche Beirat des eigenen Ministeriums in einem Gutachten seitenlang nachwies, dass auch in diesem unseren Land „armutsbedingte Mangelernährung und teils auch Hunger“ grassieren.Soweit Erkenntnis und Einsicht die ersten Schritte zur Veränderung sind, ließe sich einerseits also sagen: Es tut sich was. Andererseits ist Özdemir bisher ein einsamer Rufer in der Wüste. Als seine Leute im vergangenen Herbst eine Kleine Anfrage der Linksfraktion zum Thema Ernährungsarmut auf den Tisch bekamen, mussten sie die Antwort der Bundesregierung mit fünf (!) weiteren Ministerien abstimmen. Am Ende war dann wieder alles wie gehabt, also gut: Wer vom Regelsatz lebe, könne sich dennoch grundsätzlich gesund ernähren, erklärte man den Linken.Doch was sagen die Fakten? Natürlich nicht, dass Deutschland generell ein Vitaminmangelland ist. Punktuelle Unterversorgung aber legten selbst staatliche Verzehrstudien immer wieder offen. Es lohnt der nähere Blick: Gerade Kinder und Jugendliche bekommen von einigen Vitaminen und Mineralstoffen deutlich weniger als empfohlen – darunter jene, die für eine gesunde Entwicklung besonders wichtig sind. Gesichert ist zudem: Menschen mit geringem Einkommen essen weniger Obst und Gemüse, Hülsenfrüchte und Pilze als besser Situierte. Überaus starke Indizien sprechen also dafür, dass ein niedriger sozioökonomischer Status mit einer ungesünderen Nährstoffzufuhr einhergeht.Stellt sich die Frage nach dem Grund. Liegt es nur am Wissen und Wollen – oder auch am Geld? Abermals liefert die Forschung Hinweise, an denen kein noch so gut gemeintes „Hartz-IV-Kochbuch“ vorbeikommt: Zahlreiche Studien belegen, dass mikronährstoffreiche Lebensmittel deutlich teurer sind als energiedichte Produkte wie Nudeln und Kartoffeln. Die machen zwar schnell satt, beinhalten aber kaum Vitamine und Mineralstoffe. In deutlicher Mehrheit kommen Untersuchungen zu dem Schluss: Das im Regelsatz für Nahrungsmittel vorgesehene Budget reicht für einen gesunden Einkauf nicht aus.Lernfähigkeit beeinträchtigtDie beiden jüngsten Berechnungen legten Mediziner:innen und Ernährungswissenschaftler:innen der Berliner Charité sowie der Unis Bonn und Potsdam auf Basis von Preisen des Jahres 2021 vor, also noch unter dem Hartz-IV-Regime. Je nach Altersgruppe ermittelten sie einen Mehrbedarf von bis zu 50 Prozent gegenüber dem für Kinder und Jugendliche zugestandenen Geld für Nahrungsmittel. Auch bei Erwachsenen war die Deckungslücke groß. Je nach Ernährungsstil musste ein Mann zwischen 6,40 Euro und rund elf Euro am Tag ausgeben (mediterrane Diät lag in der Mitte). Das bezieht sich auf Preise von 2021. Heute, zwei Inflationsjahre später, unterstellt das Bürgergeld, ein Erwachsener könne mit rund 5,70 Euro am Tag für Lebensmittel und alkoholfreie Getränke auskommen.So reicht es bei vielen zwar für die nötigen Kalorien, nicht aber für ausreichend Mikronährstoffe. Diese Unterversorgung ist das, was mit Mangelernährung gemeint ist: Es handelt sich um einen „verborgenen Hunger“, der – anders als kalorischer Hunger – nicht sichtbar ist und sogar Übergewichtige ereilen kann. Dass er gleichwohl dramatische Folgen hat, auch dafür gibt es starke Indizien. Gerade bei Kindern.Die Nährstoffversorgung beeinflusst deren körperliche und geistige Entwicklung, die Ernährung einer Schwangeren prägt den Stoffwechsel ihres Kindes für dessen gesamtes Leben. Diesen Mangel in den ersten Lebensjahren kann es später nicht mehr wettmachen. Beobachtbar ist nicht nur, dass Menschen mit geringem Einkommen häufiger an ernährungsbedingten Krankheiten leiden. Die Messungen zeigen, dass der Hippocampus bei Kindern, die in Armut leben, kleiner ist, jene Schaltzentrale im Gehirn also, die zentral ist für die Lernfähigkeit. Und bekannt ist, dass die viel beschriebenen Leistungsunterschiede zwischen Kindern armer und begüterter Eltern nicht erst im Schulsystem entstehen, sondern schon im Babyalter, in dem die Ernährung zwar nicht allein entscheidend, aber besonders wichtig für die Entwicklung ist. Weiterhin zeigen brisante Befunde einer Langzeitstudie aus Brandenburg, für die Wissenschaftler:innen die Schuleingangsuntersuchungen von 250.000 Kindern der Jahre 1994 bis 2006 ausgewertet und mit dem sozialen Status der Eltern abgeglichen haben, dass Kinder aus benachteiligten Schichten nicht nur in der Sprachentwicklung zurücklagen, sondern auch signifikant kleiner gewachsen sind als Gleichaltrige aus besser situierten Familien. Neben der elterlichen Sorgearbeit ist unzureichende Nährstoffversorgung eine wesentliche Ursache.Wir wissen bereits also viel – nur nicht, wie viele Menschen in Deutschland von Ernährungsarmut betroffen sind. Mehr als vier Prozent, schätzte die Welternährungsorganisation 2014 ohne gesicherte Daten. Neun Prozent verzichteten aus Geldgründen beim Einkauf auf Obst und Gemüse, ergab eine Umfrage 2016, lange vor Corona und Krieg. Das wahre Ausmaß des Problems ist heute in keiner Statistik erfasst, doch der Mechanismus lässt sich beschreiben: Fehlt Armutsbetroffenen das Geld für eine gesunde Ernährung, können sie ihre Kinder schlechter ernähren. Mit höherer Wahrscheinlichkeit fehlt es ihnen an Vitaminen und Mineralstoffen, ein Mangel, der Entwicklung und Bildungserfolge hemmt – und das Risiko erhöht, dass diese Kinder auch als Erwachsene in Armut leben müssen und die eigenen Kinder nicht gesund ernähren können. Armut und Mangelernährung bedingen sich gegenseitig, die Armutsspirale dreht sich, während die Sozialpolitik schon heute die Armut von morgen fördert. Denn bei aller Euphorie von SPD und Grünen über das neue Bürgergeld: Als der Regelsatz zum 1. Januar um etwa zwölf Prozent stieg, lag die Teuerungsrate bei Lebensmitteln bei über 20 Prozent. Ein Jahr zuvor stand einem Hartz-IV-Aufschlag von 0,76 Prozent eine Lebensmittel-Inflation von knapp fünf Prozent gegenüber.Unzureichende RegelsätzeDa bewirkt die neue Ehrlichkeit eines Cem Özdemir wenig, solange er nicht an die entscheidenden Hebel kommt. In Schweden konnte ein ausgewogenes, kostenloses Schulessen die Entwicklung gerade armutsbetroffener Kindern verbessern – eine solche Maßnahme jedoch läge in der Verantwortung der Bundesländer. Die Höhe der Regelsätze wiederum ist Sache von Sozialminister Hubertus Heil, und der Sozialdemokrat offenbart einen ganz anderen Blick auf das Thema als Özdemir.Das beginnt schon mit der Regelsatzberechnung. Bei den Ernährungskosten orientiert sie sich an den Beträgen, die Menschen mit geringem Einkommen in der Vergangenheit tatsächlich für Essen ausgaben, ohne zu prüfen, ob dies für eine gesunde Kost reicht oder ob es nur deshalb so wenig ist, weil das Budget durch Tafel- und andere Spenden künstlich kleingerechnet wurde. Konfrontiert mit der Auffassung der Wissenschaftlichen Berater des Ernährungsministeriums, dass das Geld auch für eine gesunde Ernährung reichen sollte, erklärte das Sozialministerium 2021 einmal, dieses Ziel nicht berücksichtigen zu können, weil man den Geldbedarf für eine gesunde Ernährung gar nicht erhebe. Ein Zirkelschluss der Ignoranz: Wir können es nicht ändern, weil uns Daten fehlen – und deshalb ändern wir nichts.Heils Beamte waren es auch, die den Kollegen im Hause Özdemir jene Aussage auf den Block diktierten, die im vergangenen Herbst in der Antwort auf die Kleine Anfrage der Linksfraktion landete: dass nämlich der Regelsatz für eine gesunde Ernährung schon ausreiche – Quelle, ausgerechnet, jenes Gutachten des Wissenschaftlichen Beirats im Ernährungsministerium, in dem das glatte Gegenteil steht. Heil überließ es Özdemir, sich bei den Professoren zu entschuldigen. Trotzdem blieb der Satz in der offiziell vom Bundestag veröffentlichten Antwort stehen. Wie der Eindruck: Özdemir würde gerne mehr, darf aber nicht.In der Not belässt er es bei halbgaren Entlastungsvorschlägen wie dem Wegfall der Mehrwertsteuer auf Obst und Gemüse. Eine alte Idee, deren Ziel es eigentlich ist, Menschen zu animieren, sich gesünder und pflanzlicher zu ernähren. Inmitten der Rekordinflation holte Özdemir sie wieder aus der Schublade. Armutsbetroffenen aber brächte das herzlich wenig: Da sie ohnehin kaum noch Gemüse kaufen oder es steuerfrei bei der Tafel holen, sparen sie nichts. Entsprechend sarkastisch kommentierte Michael Stiefel, Vorstand des Armutsnetzwerks, die Idee: „Wer den Tag mit getrüffeltem Wachteleieromelette an Iberico-Schinken beginnt, der profitiert davon natürlich …“ Auch das Eingeständnis der Grünen-Chefin Ricarda Lang fand – ebenfalls zu Unrecht – kaum Beachtung. In einem Interview mit dem Hamburger Straßenmagazin Hinz & Kunzt sagte sie: „Unser Ziel bleibt: Regelsätze müssen zum Leben reichen.“ Um dann anzufügen: „Das ist noch nicht geschafft.“Die Parteichefin einer Regierungspartei muss also bekennen, für Sozialleistungen mitverantwortlich zu sein, die zum Leben nicht reichen. Das ist an Ehrlichkeit kaum zu überbieten. Und gleichzeitig eine Kapitulationserklärung.