Resilient oder einfach nur blockiert?

Libanon Seit Ende letzter Woche erlebt der Libanon landesweite Proteste, die an das Jahr 2015 erinnern. Doch dieses Mal geht es um viel mehr, als kleine Stellschrauben

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Resilient oder einfach nur blockiert?

Foto: Joseph Eid/AFP via Getty Images

Nachdem es am letzten Donnerstag landesweit zu ersten Protesten gekommen ist, fordern zehntausende Libanes*innen den Rücktritt der Regierung und stellen das politische System als Ganzes in Frage. Anders als bei den letzten großen Protesten im Jahr 2015 gehen die Menschen heute gemeinsam auf die Straße und tragen nicht wie sonst üblich die Fahnen ihrer jeweiligen politischen Gruppierungen. Und anders als 2015, als die Proteste auch durch den Kollaps der staatlichen Müllentsorgung ausgelöst wurden, fordern sie heute, dass die Regierung nicht nur an kleinen Stellschrauben dreht, sondern stellen das politische System und die es dominierende politische Klasse als solche in Frage.

Nach ersten Rücktritten von vier Ministern der Partei „Lebanese Forces“ beharren die Demonstrierenden auf ihren Forderungen und blockieren weiter zentrale Plätze in der Hauptstadt sowie unter anderem Straßen im Norden und Süden des Landes und im Bekaa-Tal. Auf Anweisung des Bildungsministeriums fiel am Freitag landesweit und bis auf Weiteres der Unterricht an Schulen und Universitäten aus. Über das Wochenende blieben viele Geschäfte geschlossen, nachdem es in der Nacht auf Freitag vereinzelt zu Ausschreitungen, Plünderungen und Zusammenstößen mit den Sicherheitskräften kam. Die libanesische Armee rief die Bevölkerung dazu auf, friedlich zu protestieren, ohne staatliches oder privates Eigentum zu beschädigen.

Das Narrativ der Resilienz

Während der Libanon insbesondere von der Europäischen Union und der deutschen Bundesregierung in den vergangenen Jahren – angesichts der anhaltenden Krisen in Syrien und dem Irak, in deren Verlauf über 1,5 Millionen Menschen in den Libanon geflohen sind – immer wieder für seine hohe Resilienz gelobt worden ist, erschüttern nun also die Folgen einer seit Jahren vor sich hergeschleppten Finanz- und Wirtschaftskrise das Land. Als resilient wird der Libanon in diesem Zusammenhang vor allem bezeichnet, weil das Land seit dem letzten Einmarsch der israelischen Armee im Süden des Landes 2006 und angesichts der seit 2011 in Syrien herrschenden Krise politisch vergleichsweise stabil geblieben ist. Die aktuellen Proteste aber zeigen, dass ein solcher Resilienzbegriff für den Bereich der Außenpolitik und Entwicklungszusammenarbeit unangemessen ist. Wie wäre sonst zu erklären, dass die aktuellen Proteste, die sich gegen die anhaltende Korruption und das Missmanagement des libanesischen Staates richten, keine aktuell neuen, sondern lange schon vorherrschende Probleme adressieren.

Auch wenn die libanesische Regierung reagierte und erste Gesetzesvorhaben zurückzog, lassen sich die Ursachen für die Proteste somit nicht schnell aus der Welt schaffen. Ebenso wenig die hohe Staatsverschuldung von 86 Milliarden US-Dollar, bei einer Quote von etwa 150 Prozent des Bruttoinlandsprodukts einer der höchsten Schuldenquoten weltweit. Während der Libanon also von externen Akteuren für seine Anpassungs- und Widerstandsfähigkeit gelobt wird, begünstigt das marode politische System des Landes nur eine kleine Elite, und ein wirklicher Staat mit einer hoheitlichen Fürsorgepflicht existiert bis heute quasi nicht.

Angesichts der Tatsache, dass die durchweg positive Bezugnahme auf das als achso resilient empfundene System des Libanon Analyst*- und politische Entscheidungsträger*innen in jüngster Zeit zunehmend dazu verleitet, ähnliche politische Arrangements als Lösungen für Konflikte in Ländern wie Libyen, dem Jemen und Syrien in Betracht zu ziehen, lohnt es sich zu betonen, dass die Ursachen für diese anhaltende soziale Krise, mit der sich weite Teile der libanesischen Bevölkerung tagtäglich konfrontiert sehen, im Ausgang des libanesischen Bürgerkriegs 1990 liegen. Ähnlich wie mit dem Dayton-Abkommen, das 1995 den Bosnien-Krieg beendet hat, ist mit dem Taif-Agreement ein Friedensvertrag geschlossen worden, der die Kampfhandlungen beendet hat, aber nicht als Grundlage einer Verfassung dienen kann. Deshalb ist in den jeweiligen Vertragswerken auch explizit darauf verwiesen, dass sie möglichst schnell durch eine richtige Verfassung ersetzt werden sollen. Nichtsdestotrotz wird der Libanon, genau wie Bosnien, bis heute auf Grundlage dieses Abkommens aus dem Jahr 1990 regiert. Das daraus entstandene politische System, an dem nur geringe Anpassungen vorgenommen wurden, sieht im Fall des Libanon eine Gewaltenteilung entlang der damaligen Bürgerkriegslinien vor und stellt sicher, dass alle damals einflussreichen Gruppierungen in einem sogenannten „Power-Sharing“-System an der Regierungsführung beteiligt sind. Für das politische System des Libanon bedeutet dies, dass die verschiedenen religiösen Gruppen zu festen Quoten im Parlament vertreten sind und beispielsweise das Amt des Präsidenten von einem maronitischen Christen, das des Ministerpräsidenten von einem sunnitischen und das des Parlamentspräsidenten von einem schiitischen Muslim besetzt werden muss. Der Oberbefehlshaber der Streitkräfte muss wiederum ein Christ sein.

Ein geschlossenes politisches System

Unter diesem System fehlender politischer Repräsentation, leiden vor allem auch Frauen, die trotz des vergleichsweise toleranten und offenen Images, dessen sich die libanesische Gesellschaft häufig erfreuen darf, nur sehr gering an formalen politischen Prozessen beteiligt sind. Insgesamt zeichnet sich die Parteienlandschaft des Libanon durch einen hohen Grad von Klientelismus und patriarchaler Einflussnahme aus. So werden die Wahlkandidat*innen von den Führern der jeweiligen politischen Lager bestimmt, wodurch jeder politische Wettbewerb quasi überflüssig gemacht wird, da statt der Unterstützung von unten nur die Gunst von oben zählt. Weil sich fast alle politischen Parteien nach dem Bürgerkrieg entlang konfessioneller Linien herausgebildet haben, während viele von ihnen quasi unmittelbar aus bewaffneten Gruppierungen hervorgegangen sind, verfestigten sich diese konfessionellen Linien und bestimmen bis heute die politische Landschaft des Libanon. Auch wenn sich der libanesische Bürgerkrieg anfangs vor allem um die Anwesenheit der palästinensischen Befreiungsbewegung (PLO) drehte, die nach bewaffneten Auseinandersetzungen mit dem jordanischen Militär ab 1970 ihr Operationsfeld in Jordanien verloren hatte und verstärkt im Libanon präsent wurde, wird er gemeinhin als ein Konflikt zwischen religiösen und ethnischen Gruppierungen verstanden. Diese Lesart des Konflikts verwischt die ihm zugrunde liegenden politischen und sozialen Beweggründe, die zu dem Ausbruch des 15-jährigen Bürgerkriegs führten und sich in seinem Verlauf weiter herausgebildet haben. Weil die Infrastruktur des Libanon seit Jahrzehnten in einem desaströsen Zustand ist – so gab es seit der Gründung des Landes 1920 zu keinem Zeitpunkt jemals eine staatlich zur Verfügung gestellte 24-stündige Stromversorgung, und selbst in der Hauptstadt Beirut mit ihrer luxuriösen Innenstadt ist das Leitungswasser nicht trinkbar – gelingt es den politischen Eliten, ihre Macht dadurch zu festigen, dass sie ihre jeweiligen Communities mit Zusatzleistungen versorgen.

Auch die im Westen oft als reine Terrororganisation verstandene Hisbollah ist im sozialen Bereich aktiv und stützt ihre Machtstellung in der libanesischen Politik vielmehr auf dieses Engagement als auf ihre militärische Stärke oder das sie umgebende Narrativ als Widerstandsbewegung gegen den israelischen Staat, das sich nur aufgrund der anhaltenden Besetzung von Teilen des Südlibanon durch Israel bis heute aufrechterhalten lässt. Wer es sich leisten kann, hat im Libanon einen Generator, der die Engpässe in der Stromversorgung überbrückt und lässt seine Hausleitungen nachts von einem Tanklaster mit Trinkwasser füllen. Weil die Regierungen des Libanon bisher darauf verzichten, Daten zu Demografie und sozialer Lage zu erfassen, auch weil das politische Establishment befürchtet, durch eventuell dokumentierte demografische Veränderungen unter Druck zu geraten, das als Übergangslösung konzipierte System der politischen Repräsentation nach dem Taif-Agreement zu reformieren, ist nicht klar zu sagen, wie viele Menschen sich dies heute nicht leisten können. Angesichts der Tatsache, dass der Libanon in internationalen Vergleichen hinsichtlich der sozialen Ungleichheit regelmäßig auf den hintersten Plätzen landet, während eine entfesselte Marktwirtschaft fortlaufend wenige Gewinner und viele Verlierer produziert, steht allerdings fest, dass dies nur vergleichsweise wenige der knapp 6 Millionen Einwohner*innen sein können. Angesichts der großen sozialen Ungleichheit müssen eine 24-stündige Stromversorgung und trinkbares Leitungswasser im Libanon vielmehr als Luxusgüter betrachtet werden.

Grundlegende Herausforderungen und akuelle Hoffungen

Dazu kommen Korruption, Vetternwirtschaft, eine politische Tradition, die durch die Weitergabe politischer Ämter an Familiennachfolger gekennzeichnet ist und eine heruntergekommene öffentliche Infrastruktur, die weder die Zugstrecken instand halten noch einen hinreichenden Nahverkehr bereitstellen kann. Die wachsende Unzufriedenheit der libanesischen Bevölkerung mit diesen von Inkompetenz und Selbstblockade geprägten Zuständen führte im Jahr 2018, als die Libanes*innen erstmals seit 9 Jahren ein neues Parlament wählen durften, zu einem großen Zuspruch für ein säkulares Parteienbündnis. Vor dem Hintergrund der großen Unzufriedenheit mit dem politischen System und einem lange schon hohen Maß an politischer Apathie haben die Müllkrise von 2015 und der Ausgang der Kommunalwahlen von 2016 gezeigt, dass sich ein großer Teil der Gesellschaft durch die etablierten politischen Parteien nicht ausreichend repräsentiert fühlt. 2016 gelang es einem überkonfessionellen zivilgesellschaftlichen Bündnis mit der Unterstützung einer von Freiwilligen geführten Wahlkampagne unter dem Titel „Beirut Madinati“ (Beirut meine Stadt) erstmals die politischen Eliten der Hauptstadt Beirut herauszufordern, die ebenfalls seit Jahren von denselben politischen Gruppierungen dominiert werden. Auch damals hatte die Frage der politischen Repräsentation viel mit der unangefochten herrschenden politischen Klasse und der ihr innewohnenden Korruption, sowie ihrem Versäumnis, grundlegende öffentliche Dienstleistungen zu erbringen, zu tun.

Die Teilerfolge der libanesischen Zivilgesellschaft und die anhaltenden breiten Proteste wecken die Hoffnung darauf, dass sich angesichts des permanenten Stillstands auf sozialer Ebene nun endlich etwas ändern wird. Die Proteste sind größer, werden breiter getragen und reißen auch nach Tagen landesweit nicht ab. Während sich Berichte mehren, dass Unterstützer der Amal-Bewegung im Süden versuchen, Menschen gewaltsam am Protestieren zu hindern, hat Hassan Nasrallah, der die mächtige Hisbollah anführt, seinen indirekten Widerstand gegen die Proteste verkündet und möchte an der jetzigen Regierung festhalten. Auch wenn die Hisbollah als stärkster Machtakteur innerhalb des Libanon betrachtet werden muss und Nasrallahs Einfluss weit reicht, befinden sich nach wie vor viele Menschen auf den Straßen, die zum eigentlichen Unterstützerkreis der Hisbollah gezählt werden. Dies zeigt, dass auch sie nicht blind den Anweisungen der politischen Eliten folgen, sondern auch bereit und fähig sind, ihrem Unmut Ausdruck zu verleihen. Weil die Hoffnungen, die auf den Erfolgen von Beirut Madinati und ähnlichen Bündnissen vor allem auf ihrem überkonfessionellen Charakter fußen, laufen allerdings auch sie Gefahr, für andere Faktoren sozialer Ungleichheit blind zu sein. Während dies, was die Beteiligung von Frauen innerhalb der Bewegung angeht, nicht unbedingt zu befürchten ist, stellen sich angesichts des vergleichsweise hohen Einflusses akademisch-urbaner Milieus beispielsweise durchaus Fragen bezüglich der sozialen Kategorie class. Dass die derzeitigen Proteste in nahezu allen Bevölkerungsgruppen breiten Zuspruch finden und am Sonntag wieder zehntausende auf den Straßen waren, weckt aber zumindest eine abstrakte Hoffnung darauf, dass der politische Stillstand überwunden werden kann, während sich die vereinende Erfahrung der tagelangen Proteste in das kollektive Bewusstsein der libanesischen Zivilgesellschaft einprägen und sie in ihrem Aufbau als Rückgrat einer wirklich resilienten Gesellschaft, die einen Platz für alle hat, unterstützen wird.

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Dieser Beitrag ist in leicht veränderter Form zuerst auf dem Blog von medico international erschienen:

Libanon - Übergreifender Aufstand

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Max Jansen

Max Jansen hat Soziologie, Volkswirtschaftslehre und Politikwissenschaften studiert. Derzeit lebt und arbeitet er in Frankfurt am Main.

Max Jansen

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