Die am Rande

Dokumentation Wie Thomas Heise mit einer Westfernsehkamera Bilder machte, die die Bilder des Westfernsehens dementieren. Zum 4. November 1989
Ausgabe 45/2014
Zweiter von links: Der Filmemacher mit einem orangefarbenen Tuch im Zentrum der Geschichte
Zweiter von links: Der Filmemacher mit einem orangefarbenen Tuch im Zentrum der Geschichte

Screenshot: rbb

Den Mann im Bildvordergrund kennt jedes Kind: Gregor Gysi, ein Politiker, der die Regeln des Spiels beherrscht, die Anforderungen der massenmedialen Vermittlung erfüllt, der eloquent und originell ist in der Kritik der Macht. Gysis rhetorisches Geschick lässt sich heute durch Klicks abbilden, seine Bundestagsreden erreichen auf Youtube sechsstellige Zuschauerzahlen.

Ebenfalls auf Youtube findet sich der Clip, aus dem das Standbild über diesem Text stammt: Gysis Rede bei der Demonstration vom 4. November 1989 (die im Internet komplett dokumentiert ist), Berlin, Alexanderplatz, fünf Tage vor der Maueröffnung. Gysi ist damals nur Anwalt und noch nicht Parteivorsitzender, sein Auftritt eine Urszene: die schüchterne Freude über eine gelungene Randbemerkung, die das angespannte Verhältnis zwischen dem Volk und seinem möglichen Repräsentanten auflockert, der beginnende Flirt mit dem Publikum, das wachsende Zutrauen in die Fähigkeiten als Redner.

Aber es geht hier nicht um Gregor Gysi, sondern um den Mann daneben beziehungsweise dahinter. Kein Mensch kennt am 4. November 1989 Thomas Heise, dabei steht und filmt er im Zentrum der Weltaufmerksamkeit, direkt neben den Markus und Christa Wolfs, Stefan Heyms, Steffie Spiras, die an diesem Samstagvormittag auf die Bühne steigen, errichtet auf einem Lkw vor dem Haus des Reisens. Den Platz, den Heise eingenommen hat, gab es offiziell nicht, er musste eingenommen werden (legitimiert durch einen Wisch, den er sich hatte unterschreiben lassen als Teil der Gruppe, die in den Theatern die Demonstration organisierte).

Drehen konnte Heise, weil er eine eigene Kamera besaß. Die hatte er einige Zeit zuvor über Heiner Müller von einer Westberliner Produktionsfirma bekommen, um Müllers Theaterarbeit zu dokumentieren. Der ursprüngliche Plan sah vor, dass ein öffentlicher-rechtlicher Sender aus Heises Material ein Feature zusammengeschnitten hätte über die Subversion in der DDR oder dissidente Bühnenkunst. Dass Heise sich dem verweigert hat, ist eine schöne Ironie der deutschen Geschichtsfilmproduktion: Die Westfernsehkamera, die mit eindeutigen Absichten in die DDR gebracht wird, ermöglicht Aufnahmen, die 20 Jahre später das Bild dementieren, das das vereinigte Westfernsehen von dieser DDR pausenlos macht. Heises Material (2009) ist der klügste und größte Film über 1989.

Von der Demonstration am 4. November ist Günter Schabowskis Auftritt („mit Pfeffer und Salz“) in das fast dreistündige Panoptikum aus lauter Fragmenten eingegangen. Während Gysi spricht, ist Heise, wie man auf dem Foto sehen kann, dagegen vor allem damit beschäftigt, seinen Platz am Fahrerhaus des LKWs zu sichern; er hantiert mit dem orangefarbenen Tuch, mit dem er sich an der Holzkonstruktion der Bühne festgebunden hat. In gewisser Weise ist auch das eine Urszene – für Heise. Der filmt nämlich da, wo keiner dreht: am Rande. Bis heute, bis zu den schwerkriminellen Jugendlichen in einem Gefängnis in Mexiko City, mit denen er Brecht einstudiert hat für Städtebewohner, seinen vorletzten Film, der Ende des Monats einen kleinen Kinostart haben wird.

Bei Gysis Rede am 4. November 1989 erscheint der Heise, der die Kamera beiseite gelegt hat und an dem Tuch ruckelt, wie ein Prophet der kommenden Karriere des Politikers: Den muss er nicht aufnehmen. Denn Gysi gehört zu den Überraschungen an diesem Tag, zu den Sympathieträgern, er nutzt seine Chance beim Vortanzen vorm Volk. Gysis Weg führt in das Scheinwerferlicht von Fernsehstudios und Tagesschau-Berichten, kurz: ins Abseits der Arbeit, die Thomas Heise macht.

Nächste Vorführungen

Das Wiener Filmmuseum präsentiert ab 10. 11. eine Retrospektive: Thomas Heise. Das Gesamtwerk (bis 3. 12., filmmuseum.at). Der vorletzte Film Städtebewohner (2014) ist am 7. 11. bei der Duisburger Filmwoche zu sehen, ab Ende des Monats im Kino. Am 8. 11. im Deutschen Theater Berlin: Imbiss Spezial (1989). Und am 3. 12. in der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz Heises neuester Film Fabrik, über das Haus, zum 100. Geburtstag

Matthias Dell ist mit Simon Rothöhler Herausgeber des gerade erschienenen Buchs Über Thomas Heise (Vorwerk 8, 200 S., 19 €; mit Texten von Dirk Baecker, Annett Gröschner, Michael Jäger, Jürgen Kuttner u. a.)

Nur für kurze Zeit!

12 Monate lesen, nur 9 bezahlen

Geschrieben von

Matthias Dell

Filmverantwortlicher

Matthias Dell

Freitag-Abo mit dem neuen Roman von Jakob Augstein Jetzt Ihr handsigniertes Exemplar sichern

Print

Erhalten Sie die Printausgabe zum rabattierten Preis inkl. dem Roman „Die Farbe des Feuers“.

Zur Print-Aktion

Digital

Lesen Sie den digitalen Freitag zum Vorteilspreis und entdecken Sie „Die Farbe des Feuers“.

Zur Digital-Aktion

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Unabhängiger und kritischer Journalismus braucht aber Unterstützung. Wir freuen uns daher, wenn Sie den Freitag abonnieren und dabei mithelfen, eine vielfältige Medienlandschaft zu erhalten. Dafür bedanken wir uns schon jetzt bei Ihnen!

Jetzt kostenlos testen

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden