SOS Humanity und andere Seenotretter im Mittelmeer beschweren sich bei der EU-Kommission
Schikanen Seit geraumer Zeit werden privaten Rettungsschiffen von den italienischen Behörden statt nächstgelegener Häfen häufig Anlauforte in Norditalien zugewiesen. Aus Seenot geborgene Flüchtlinge müssten unnötig lange auf Ausschiffung warten
Zu solchen Rettungen gelangen Nichtregierungsorganisationen immer seltener – Europas Regierende zwingen sie auf längere Routen
Foto: Piscitelli/Emergency/Redu/laif
In Tränen aufgelöst ist Celine*, als sie im Juli von der Crew des Rettungsschiffs „Humanity 1“ aus einem havarierten Boot gerettet wird. „In Tunesien herrscht Gewalt gegen schwarze Menschen“, berichtet die aus Burkina Faso stammende Frau später im Gespräch. „Sie werden vertrieben und geschlagen.“ Celine zählt zu den rund 21.000 Migranten aus dem subsaharischen Afrika, die unterwegs nach Europa in Tunesien gestrandet sind. „Wir haben in den vergangenen Wochen gut 400 Menschen aus neun Booten in Seenot gerettet, die zwischen der tunesischen Küste und Lampedusa unterwegs waren“, sagt Petra Krischok, Sprecherin von SOS Humanity. „Die meisten aus Westafrika.“
Sie alle dürften nicht damit gerechnet habe
chnet haben, in Tunesien attackiert zu werden. Allein im April hinderte die dortige Küstenwache etwa 1.800 Menschen an einer Flucht über das zentrale Mittelmeer. Zudem machten Jugendgangs Jagd auf Migranten und verprügelten sie auf offener Straße. Angestellte des Hedi-Chaker-Hospitals in der Stadt Sfax weigerten sich, die Menschen zu behandeln. „Sechs Jugendliche warfen Steine nach mir“, schildert eine Frau aus der Elfenbeinküste, die mit ihrer vierjährigen Tochter Hilfe und Zuflucht sucht, den Helfern von SOS Humanity, was sie in den Tagen vor ihrer Flucht über das Mittelmeer erlebt hat. Sie sei am Auge verletzt worden und habe vergeblich gehofft, die tunesische Polizei würde sie schützen. Wer schwanger sei, dürfe nicht darauf rechnen, deshalb in einem Hospital aufgenommen zu werden. Demsy, der ebenfalls aus der Elfenbeinküste kommt, erzählt, seine Frau habe deshalb ihr Kind verloren. In der Klinik teilten ihm die Ärzte kurzerhand mit, es gebe keinen Platz für sie.Eve Geddie von Amnesty International kritisiert, dass die Unterzeichnung des Migrationsabkommens zwischen der EU und Tunesien Mitte Juli zu noch mehr Schikanen und Leid führen könne. Die Übereinkunft – sie sieht unter anderem eine erleichterte Rückführung von Tunesiern ohne Aufenthaltstitel aus EU-Staaten vor – soll helfen, in Tunesien auf eine Überfahrt wartende Flüchtlinge zur Umkehr zwingen zu können. Als Vollstrecker ist die dortige Polizei auserkoren, für deren Ausstattung und Ausbildung vermehrt EU-Hilfen bereitstehen. Parallel dazu lässt der EU-Grenzschutz Meeresgebiete intensiver mit Drohnen überwachen, die kein einziges Leben retten, sobald Flüchtlingsboote havarieren.Auch wenn die deutsche Innenministerin Nancy Faeser (SPD) gern betont, es gehe darum, „das furchtbare Sterben im Mittelmeer zu beenden“, wird ausgeklammert, dass der Tod durch Ertrinken vielfach eine direkte Folge unterlassener Hilfe, etwa der zivilen Seenotrettung Italiens, ist. „Wir unterrichten die maritimen Rettungsleitstellen in Italien und Malta während unserer Einsätze über jede Entwicklung, seien es entdeckte Seenotfälle, Suchaktionen oder der Start und das Ende einer Rettung, doch wird unserer Bitte um Informationen und Koordination nur sehr selten nachgekommen“, so Petra Krischok. Seit Dezember 2022 weisen die italienischen Behörden privaten Rettungsschiffen keinen nächstgelegenen Hafen mehr zu, sondern zumeist Anlauforte in Norditalien. Viele der Geflüchteten müssten so unnötig lange auf eine Ausschiffung warten, kritisiert Josh, der Kapitän der „Humanity 1“.Migrationsabkommen mit Tunesien soll EU schützen, nicht Menschenrechte von GeflüchtetenFünf NGOs, darunter SOS Humanity, haben deshalb im Juli Beschwerde bei der EU-Kommission eingereicht, die als Hüterin der EU-Verträge die Einhaltung internationalen und EU-Rechts sicherstellen muss. Die Praxis, Rettungsschiffen weit entfernte Häfen zuzuweisen, belaste die Budgets von Hilfsorganisationen mit hohen Treibstoffkosten, nehme Zeit in Anspruch und koste am Ende Menschenleben, heißt es in einer gemeinsamen Erklärung. Infolge der verlängerten Fahrtzeit fehlten die Rettungsschiffe auf den Fluchtrouten. Offenbar ist das genau so gewollt, um EU-Außengrenzen besser abschirmen zu können. Ein Ziel des Abkommens EU/Tunesien, das 105 Millionen Euro Finanzhilfe allein für den tunesischen Grenzschutz vorsieht, besteht erkennbar darin, Europa, nicht aber die Menschenrechte der Geflüchteten zu schützen.Seit Ende 2019 steigt gleichfalls die Zahl der Fluchtversuche über den Atlantik in Richtung Kanarische Inseln. Laut spanischem Innenministerium haben in den ersten sechs Monaten des Jahres etwa 7.200 Migranten die Inselgruppe erreicht. Wer in ein Boot steigt, um von Conakry in Guinea eine gut 2.400 Kilometer lange Überfahrt zu riskieren, hat allem Anschein nach nichts mehr zu verlieren. Die Toten vor und an den Urlaubsküsten, das „neue Moria auf Gran Canaria“ – womit spanische Medien auf Zustände wie im einschlägig bekannten Flüchtlingscamp auf der Ägäisinsel Lesbos anspielen – kann auch die Schwedin Ylva Johansson als EU-Innenkommissarin nicht ignorieren. Jüngst hat sie die Atlantikrouten denn auch als „tödlich“ bezeichnet. Dabei stammen die dort Ertrunkenen oder Vermissten nicht nur aus Westafrika. Die Menschenrechtsaktivistin Helena Maleno Garzón registrierte mit der von ihr gegründeten NGO Caminando Fronteras in der ersten Jahreshälfte 28 Bootsunglücke, bei denen 778 Menschen ertranken, darunter 112 Frauen und 49 Kinder. Die Betroffenen kämen teilweise aus Äthiopien, dem Kongo, von den Komoren, aus Syrien und dem Sudan.Ein Mensch habe das Recht, Verfolgung zu entgehen, erklärte am 20. Juli der UN-Hochkommissar für Menschenrechte, Volker Türk, gegenüber dem Sender Euronews. Werde dieses Recht ignoriert, sei „das eine Tragödie“. Damit kritisierte er nicht etwa den EU-Deal mit Tunesien, vielmehr galt seine Aussage dem britischen Migrationsgesetz vom April, das gegen internationale Rechtsnormen verstößt, da es Migranten mit sofortiger Internierung oder Abschiebung nach Ruanda beziehungsweise in andere Drittstaaten droht.Wird von der Brüsseler EU-Zentrale das Narrativ bemüht, man wolle das Sterben im Mittelmeer beenden, lässt sich das nur als Zynismus deuten angesichts der Tragödien, die sich derzeit abspielen, zumal es vor der Übereinkunft EU/Tunesien die Erfahrung gab, dass ein vergleichbares Agreement – im Februar 2017 mit der libyschen Teilregierung in Tripolis geschlossen – nicht die erwünschte Wirkung hatte. Bereits da flossen Millionen Euro in die libysche Küstenwache. Doch versuchen bis heute weiterhin Menschen über Libyen und das Mittelmeer europäische Küsten zu erreichen, im ersten Halbjahr 2023 etwa 54.000. Sie fliehen vor inhumanen Zuständen in Detention Camps und überlassen sich skrupellosen Schleppern. Libyen ist ein Beweis dafür, dass ein „Failed State“ in Nordafrika so wenig zum Gatekeeper Europas taugt, wie das jetzt von einem autokratischen Regime in Tunis zu erwarten ist.*Name geändert