Die letzte Reise der Kinder

Treblinka Der Kinderarzt, Pädagoge und Schriftsteller Janusz Korczak begleitete aus moralischer Selbstverpflichtung etwa 200 Waisenkinder in die Gaskammer des NS-Vernichtungslagers

Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Blog aus der Freitag-Community.
Ihre Freitag-Redaktion

Schrei 15:39 Uhr
Schrei 15:39 Uhr

Bild: Konstanze Sailer, 2018

In seiner April-Ausstellung „Kinder bergen“ erinnert Memory Gaps an Janusz Korczak und an alle jene, die er nicht verlassen wollte.

Henryk Goldszmit wurde unter seinem Künstlernamen Janusz Korczak bekannt. Er war ein polnischer jüdischer Kinderarzt, Pädagoge, Schriftsteller und Leiter eines, im Jahr 1912, nach seinen eigenen Plänen errichteten Waisenhauses in Warschau. 1878 geboren, bestand Korczak im August 1942 darauf, die etwa 200 jüdischen Kinder seines Warschauer Waisenhauses, die von der SS abgeholt und in das NS-Vernichtungslager Treblinka deportiert wurden, zu begleiten. Obwohl er die Möglichkeit zur Flucht gehabt hätte, ließen er und seine Mitarbeiterin Stefania Wilczyńska die Kinder nicht im Stich. Wissend, dass dies auch für sie selbst den Tod bedeuten würde, begleiteten sie ihre Waisenkinder in die Gaskammer. Sie alle wurden vermutlich bereits kurz nach dem 5. August 1942 im Vernichtungslager Treblinka ermordet.

Zu den grauenhaftesten aller Tatbestände der jüngeren Geschichte Europas zählt die infernalische Ermordung von mehr als 1,5 Millionen Kindern während des Holocaust. Wie bereits in den Monaten März bis Juni 2017, erinnert Memory Gaps erneut an vier jüdische Kinder, die im Alter von 4 bis 13 Jahren im Vernichtungslager Auschwitz ermordet wurden.

Judis Weißblüth (* 15. September 1939 in München; † 16. oder 17. März 1943 im Vernichtungslager Auschwitz) wohnte seit ihrer Geburt im Kinderheim der Israelitischen Jugendhilfe in Schwabing. Gemeinsam mit ihren Erzieherinnen lebte sie infolge der behördlichen Auflösung des Kinderheims ab 1942 im sogenannten Barackenlager, einem Sammellager in München Milbertshofen, danach im Sammellager im Stadtbezirk Berg am Laim. Am 13. März 1943 wurde Judis Weißblüth gemeinsam mit den verbliebenen Erzieherinnen nach Auschwitz-Birkenau deportiert und dort am 16. oder 17. März ermordet.

Ernst Tockus (* 28. September 1936 in München; † 1943 im Vernichtungslager Auschwitz), war mit seiner Familie 1938 nach Antwerpen geflohen. Ab Mai 1940 wurde Belgien von NS-Deutschland militärisch besetzt, die jüdische Familie wurde verhaftet und in der Kaserne Dossin, dem SS-Sammellager in Mechelen/Malines bei Brüssel festgesetzt. Von dort wurde Ernst Tockus gemeinsam mit seiner Mutter und Schwester, am 15. Januar 1943, in das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau deportiert und vermutlich kurz nach seiner Ankunft ermordet.

Ellen Berta Marxsohn (* 12. März 1929 in Mainz; † 1942 im Vernichtungslager Auschwitz) flüchtete 1939 gemeinsam mit ihren Eltern nach Frankreich. Im Zuge mehrerer Wohnortswechsel wurde die Familie von den mit den Nationalsozialisten kooperierenden Vichy-Behörden im südfranzösischen Sammellager Les Milles, in einem Vorort von Aix-en-Provence, interniert. Wenig später übergab die Vichy-Polizei die gesamte Familie an die Gestapo. Ellen Berta Marxsohn wurde am 7. September 1942, gemeinsam mit ihren Eltern, vom Durchgangslager Drancy nach Auschwitz-Birkenau deportiert und vermutlich bereits kurz nach ihrer Ankunft ermordet.

Paul Sternberg (* 26. Februar 1936 in Wien; † 1943 im Vernichtungslager Auschwitz), war mit seinen Eltern rechtzeitig nach Frankreich geflohen. In der Nähe der ostfranzösischen Stadt Besanςon wurde die Familie verhaftet, interniert und vom Sammel- und Durchgangslager Drancy bei Paris, am 9. Februar 1943, nach Auschwitz-Birkenau deportiert. Paul Sternberg wurde vermutlich noch vor seinem achten Geburtstag, kurz nach seiner Ankunft in Auschwitz ermordet.

Vor diesem Hintergrund erhält der Gedanke von Janusz Korczak, "jedes Kind hat das Recht auf den heutigen Tag", ein schier unendliches Gewicht und verschlägt die Stimme.

Dominik Schmidt, Konstanze Sailer

Zur April-Ausstellung "Kinder bergen" von Memory Gaps

Hier gelangen Sie zum (kostenlosen) Download des E-Books "Die braune Gegenwart", München/Wien 2017, in dem Memory Gaps ::: Erinnerungslücken von 2015 bis Herbst 2017 zusammenfassend enthalten ist, Formate: mobi (Kindle), epub und PDF (insg. 70 S., mit 32 Abb.).

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Memory Gaps

"Memory Gaps ::: Erinnerungslücken", die digitale Kunstinitiative, wurde von der Malerin Konstanze Sailer 2015 gegründet.

Memory Gaps

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden