Die besten Bahnverbindungen

Bühne Am Berliner Maxim-Gorki-Theater lebt Kleists Michael Kohlhaas vegan, recycelt und besitzt ein Fairphone
Ausgabe 22/2015

Schauspieler Dimitrij Schaad möchte etwas sagen. „Etwas, das ’ne wirkliche Bedeutung hat. In Bezug auf die Welt.“ Den Eröffnungsmonolog nutzt er, um einmal so richtig wütend zu werden über die Diskriminierung seiner Schauspielkollegen. „Der Schwarze“ (Jerry Hoffmann) sei schon genug gestraft mit Ebola und Aids, da müsse er nicht auch noch von der Polizei immer als Erster herausgegriffen werden. Thomas werde immer nur als Nazi besetzt. Außerdem verdiene sein Babysitter mehr als er an diesem Abend auf der Bühne. Dabei laufe doch in Deutschland eigentlich alles gut: „Wir vergasen keinen mehr“, „Wir haben die besten Fußballer, das beste Bier, die besten Bahnverbindungen“.

Das Publikum jault bereits in den ersten Minuten. Regisseurin Yael Ronen, die das Kohlhaas-Prinzip inszeniert hat, ist für den amüsanten Ton bekannt, der politisch-brisante Stoffe so leicht über die Bühne des Maxim-Gorki-Theaters bringt. Dort liegt nun Metallschrott, auf dem sich Projektionen schwarzer Raben vermehren. Am Fleisch nagende Symbole – mal als Bild für illegale Einwanderung, mal für Rache. Aus den Schauspielern werden jetzt Figuren. Thomas Wodianka verkörpert Michael Kohlhaas, „einer der rechtschaffensten zugleich und entsetzlichsten Menschen seiner Zeit“. 2015 heißt das, er recycelt, lebt vegan und besitzt ein Fairphone – ein Mensch, der das Gefühl eigener Rechtschaffenheit am Grad seiner biologischen Lebensweise abmisst und anderen vorhält. Aus Kleists Rosshändler wird ein Entrepreneur für elektrische Fahrräder, ansonsten bleibt vieles gleich.

Als der alleinerziehende Kohlhaas und sein Kind – eine schwarze Puppe – Opfer einer Fahrerflucht werden, erntet seine Anzeige gegen den Reichen von Tronka (Dimitrij Schaad) nur Spott. Einziger Zeuge ist Palästinenser Michail (Taner Sahintürk). Die Geschichten des deutschen Entrepreneurs und des palästinensischen Käsehändlers sind so verschieden nicht, möchte Ronen dem Publikum sagen. Michail wurde an einem israelischen Checkpoint schikaniert, auch er protestierte, doch es stand nicht in seiner Macht, auf sein Recht zu pochen. Seither lebt er illegal in Deutschland.

Stinkbomben ins Soho House

Der deutsche Michael hingegen feilt an einer Rachekampagne. Im Berliner Soho House zündet er während einer Party von Tronkas Stinkbomben und Brandsätze. Der Terror geht viral: Über Facebook findet das Kohlhaas-Prinzip Nachahmer – „bis die Gerechtigkeit wiederhergestellt ist“. Das Verlangen nach individueller Gerechtigkeit entlarvt sich als selbstzentrierte Zerstörungswut, die andere als Vehikel für ihre Rachsucht gegen den Staat nutzen. Dass das Kind nur eine Puppe ist, versinnbildlicht seine Rolle als Leerstelle für eine väterliche Moral, die kein Ziel hat außer der Wiederherstellung des eigenen Ehrgefühls, das vor dem Kontrast der palästinensischen Parallelgeschichte schal wirkt. Da wird ein bisschen viel mit dem Finger gezeigt: Luxusprobleme des Bioladengängers hier, schwarze Raben als Symbol für Flüchtlingsströme dort. Als Kohlhaas den Palästinenser als Schuldigen identifizieren soll, um selbst freizukommen, weigert er sich und lässt sich den Prozess machen. Für ein Mal verhält er sich nicht wie das Klischeebild des selbstgerechten Wutbürgers. „Etwas, das ’ne wirkliche Bedeutung hat“, wurde an diesem Abend vielleicht nicht gesagt. Aber weil er die eigenen Klischees mit Humor nimmt, ist er so gelungen.

Info

Das Kohlhaas-Prinzip Regie: Yael Ronen Maxim-Gorki-Theater, Berlin

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