Das Geheimnis der Linken

Hegelplatz 1 Veränderung tritt überall auf, man muss sie nur erkennen. Michael Angele kommt mit zwei neuen Erkenntnissen aus den Feiertagen zurück
Ausgabe 01/2019

Wie ein Blitz durchfährt dich die Erkenntnis, von der du glaubst, jeder und jede müsse sofort von ihr erfahren, andernfalls bleibe die Welt dunkel. Im Alltag wird daraus eine Mitteilung, die von unseren Nächsten schnell wieder vergessen wird, aber der gleiche Drang befiel die großen Religionsstifter, die die Welt dann wirklich verändert haben, und zweifellos wirkt dieser zum Sendungsbewusstsein gesteigerte Mitteilungsdrang auch in uns Journalisten. Wir sind aus einem Holz geschnitzt, wenngleich nicht mit dem gleichen Messer: Was im Alltag normal scheint und bei den Religionsstiftern religiös, wirkt bei uns Journalisten oft wichtigtuerisch. Nicht wenige von uns sehen sich quasi als Evangelisten, die etwas zu verkünden haben („Sagen, was ist!“). Ich weiß, wovon ich spreche, denn ich muss hier sofort zwei Dinge loswerden.

1. Shoplifters, der japanische Film, über den gerade alle sprechen. Ein Film über eine Familienbande eben; da sind Oma Hatsue, Mutter Nobuyo und Tante Aki, die in einer Peepshow arbeitet. Und da sind der Dieb Osamu und „Sohn“ Shota, der ebenfalls klaut, sie entführen die kleine Yuri, in Wahrheit aber wird sie den lieblosen Eltern entrissen und in ein bescheidenes, aber gutes Zusammenleben gerettet. Gewiss, die Bande hat sich im Haus von Oma Hatsue eingenistet, in Wahrheit aber macht sie ihr einen schönen Lebensabend, aber Sie haben ja unsere Kritik gelesen. Jedenfalls: Dem Zuschauer geht das Herz auf, wie man abends zusammenkauert und am Tagwerk des anderen durch heitere Scherze Anteil nimmt. Am Rande der Gesellschaft, sich zugewandt. Wir schreiben das Hier und Heute. Wir sehen eine prekäre japanische Familie – ohne moderne Medien. Das ist das dunkle Geheimnis dieses Films. Der so wache Shota zockt nicht und spielt ebenso wenig mit dem Handy wie der Rest der Familie. „Völlig unwahrscheinlich“, sagt mir ein Japan-Kenner, gerade auch „wenn Kids im Spiel sind“. Nur durch das Weglassen dieses Details kann der Film seinen großen Zauber entfalten. Ich habe keine Kritik gefunden, die diesen Kunstgriff erwähnt. In Zukunft werden wir immer mehr solcher Filme sehen, da bin ich mir ganz sicher. Denn je mehr die Leute in ihre Handys schauen, desto weniger geben sie für einen Film etwas her. Ich bin jetzt nicht mehr allein mit meiner Erkenntnis. Sie ist jetzt in der Welt.

2. Der Bewusstseinswandel der Linken. Neulich, bei einer Preisverleihung. Gleich geht’s los. Viele Leute wollen auf eine begrenzte Anzahl Stühle, die Stühle sind schwarz und weiß. Sagt der Kollege: „Früher hätte man sich als Linker Sorgen gemacht, ob auch alle einen Platz finden, heute fürchtet man, dass schwarze und weiße Stühle irgendwie jemanden beleidigen könnten.“ Ist ja fast ein Gleichnis, oder?

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Geschrieben von

Michael Angele

Ressortleiter „Debatte“

Michael Angele, geb. 1964 in der Schweiz, ist promovierter Literaturwissenschaftler. Via FAZ stolperte er mit einem Bein in den Journalismus, mit dem anderen hing er lange noch als akademischer Mitarbeiter in der Uni. Angele war unter anderem Chefredakteur der netzeitung.de und beim Freitag, für den er seit 2010 arbeitet, auch schon vieles: Kulturchef, stellvertretender Chefredakteur, Chefredakteur. Seit Anfang 2020 verantwortet er das neue Debattenressort. Seine Leidenschaft gilt dem Streit, dem Fußball und der Natur, sowohl der menschlichen als auch der natürlichen.

Michael Angele

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