Deutschland in diesen Tagen: Protestieren bis zum Herzinfarkt

Glosse Nach den Bauern die Spediteure, nach den Lokführern die Uni-Ärzte, und jetzt auch noch Annie Ernaux. Der öffentliche Raum droht zu kollabieren
Bauern blockieren mit ihren Arbeitsgeräten die Straßen Berlins
Bauern blockieren mit ihren Arbeitsgeräten die Straßen Berlins

Foto: John MacDougall/AFP/Getty Images

Wer seinen Blutdruck messen muss, kennt das Verfahren: grüne Zone (bis 130), gelbe Zone (bis 160), danach: Rot. Bei mir wurde die gelbe Zone erreicht, als ich gelesen habe, dass nach den Bauern nun auch die Spediteure ihren Unmut auf der Straße bekunden wollen. Und sogar in die rote Zone kam ich heute in der Redaktionskonferenz, als es hieß, Annie Ernaux rufe zum Boykott gegen Deutschland auf.

Bauern, Spediteure, Annie Ernaux, die Uni-Ärzte, last but not least alle, die gegen die AfD sind: Es ist definitiv gerade zu viel, was da im öffentlichen Raum unterwegs ist, so dringlich und verständlich das Anliegen gerade im letzten Fall ist. Ich würde darum sagen: Einer nach dem anderen. Also erst einmal alle, die gegen die AfD sind, dann vielleicht die Spediteure, dann die Uni-Ärzte, dann Annie Ernaux, falls sie an ihrem albernen Boykottaufruf festhält.

Die Ampel triezen

Es scheint gerade jeder und jede die Gunst der Stunde nutzen zu wollen. Ein bisschen vom allgemeinen Aufruhr profitieren, sagen, dass man auch noch da ist (Hallo Uni-Ärzte!), sagen, dass es einem grad nicht so gut geht (Hallo Uni-Ärzte!), sagen, dass man wahnsinnig empört ist (Hallo Annie Ernaux!), sagen, dass man quasi die Bauern der Landstraße ist (Hallo Spediteure!). Und dazu noch ein bisschen die Ampel triezen.

Freunde, so geht das nicht: Es droht der Infarkt des öffentlichen Raums. Viele ziehen sich aus den sozialen Medien zurück, weil das alles noch schlimmer macht, kann man verstehen, ist aber Symptombekämpfung. Gegen die Verstopfung des öffentlichen Raums mit Anliegen, Protesten, „Debatten“, Aufrufen, Streiks und vielem mehr, und allem gleichzeitig, hilft nur etwas, was wir Älteren noch aus den achtziger Jahren kennen. Wenn die Luft in der Stadt damals zu sehr verschmutzt war, gab es SMOG-Alarm. Ab einer bestimmten Belastung mit Schadstoffen durften Autos nicht mehr fahren, stand das Rad der Industrie still.

Eine Wohltat. Die Letzte Generation scheint das intuitiv verstanden zu haben. Sie hält still. Danke dafür!

Sonst macht es Brüssel

Die Forschung ist innovativ, ich vertraue ihr, dass sie ein solches Messverfahren auch für den öffentlichen Raum findet. Bei, sagen wir, 10 PIB („Partialinteressebekundungen“) gehen dann erst einmal nur die gegen die AfD auf die Straße. Dann folgen meinetwegen die Spediteure mit einem PIB von 5, und die Uni-Ärzte mit einem PIB von 1, bleiben noch vier, das reicht zum Beispiel für die Streikenden des jüdischen Krankenhauses im Wedding, die bewirken, dass meine Tram 50 manchmal nicht kommt, und dann vielleicht noch für Annie Ernaux.

Ich meine, wenn wir es nicht selbst in den Griff bekommen, wird Brüssel es machen. Sie arbeiten ja schon an einem ähnlichen Verfahren für das Internet, DSA heißt es, kann keiner wollen.

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Geschrieben von

Michael Angele

Ressortleiter „Debatte“

Michael Angele, geb. 1964 in der Schweiz, ist promovierter Literaturwissenschaftler. Via FAZ stolperte er mit einem Bein in den Journalismus, mit dem anderen hing er lange noch als akademischer Mitarbeiter in der Uni. Angele war unter anderem Chefredakteur der netzeitung.de und beim Freitag, für den er seit 2010 arbeitet, auch schon vieles: Kulturchef, stellvertretender Chefredakteur, Chefredakteur. Seit Anfang 2020 verantwortet er das neue Debattenressort. Seine Leidenschaft gilt dem Streit, dem Fußball und der Natur, sowohl der menschlichen als auch der natürlichen.

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