Wir Heimatlosen: Vom Gefühl, in den aktuellen Debatten nirgendwo zuhause zu sein
Distanz Früher galten wir als „kritisch“, heute nennt man uns „Versteher“. Ob Krieg oder Rassismus: Wir fremdeln mit der Öffentlichkeit. „Ambiguitätstoleranz“ hilft auch nicht mehr, und unser Kainsmal ist der Konservativismus
Der Gedanke kam mir beim (verspäteten) Lesen von Daniela Kriens Die Liebe im Ernstfall. Der Roman handelt von fünf Frauen, die mit dem Mauerfall erwachsen geworden sind und in Leipzig leben. Zwei sind Schwestern, sie haben einen schwierigen Papa. Der war Musiker in der DDR, jetzt zweifelt er an der „spätkapitalistisch westlichen-liberalen Gesellschaft“ und fragt laut, ob die Demokratie wirklich die beste aller Staatsformen sei. Das ist einer, der sich selbst vermutlich als sächsischer Ketzer verstehen würde, und den andere, zum Beispiel der Vater seiner Enkelkinder aus dem Westen, umstandslos einen Rechten nennen. Nicht direkt er interessiert mich hier, sondern seine Tochter Jorinde, eine Schauspielerin. Sie kann sich in den aktuellen Debatten und Gesin
en und Gesinnungskämpfen nirgendwo mehr verorten und „sucht vergebens nach einer Heimat“.Kronzeugin Daniela KrienIch kenne dieses Gefühl gut und glaube, dass es weiter verbreitet ist, als der allgemeine Blasen- und Konformitätszwang vermuten lässt. Vermutlich wird dieses Gefühl in den ostdeutschen Bundesländern besonders verbreitet sein, denn dort ist einer Gesellschaft nun einmal der Boden unter den Füßen weggezogen worden, und ein neuer wird zwar seit Jahrzehnten versprochen, aber es gibt bis heute Lieferschwierigkeiten, die für viel Wut, aber eben auch das Gefühl, fremd zu sein, sorgen.Diese Heimatlosigkeit des Ostens, wenn man das so platt sagen kann, strahlt in den Westen aus. Man kann das an der Autorin Daniela Krien selbst erkennen. „Ich fühle mich vor allem über die Kinder mit dieser Gesellschaft verbunden. Aber ein tieferes inneres Zugehörigkeitsgefühl geht auch mir zunehmend verloren.“ Das sagte sie in einem Interview mit der NZZ, die kein Spartenblatt für Ostbefindlichkeiten ist. Man versteht es überall.Der „Suchende“ bei Hugo von HofmannsthalKonkret weiß man über diese Heimatlosigkeit natürlich recht wenig. Es gibt keine Umfrage, keine soziologischen Daten. Zwar ist die Moderne soziologisch gesprochen ein einziger langer Prozess des Verlusts von traditionellen Bindungen. Aber die Heimatlosen, die mir vor Augen stehen, organisieren sich in keinem neuen Verein, in keiner neuen Partei, sie bilden keine Whatsapp- und schon gar keine Selbsthilfegruppen.Das Unverbundene ist ja gerade das Kennzeichen des Heimatlosen. Mir fällt der Typus des „Suchenden“ ein, den der Wiener Dichter Hugo von Hofmannsthal vor nun fast einhundert Jahren beschworen hat. Damals war dieser Suchende vor allem ein männlicher Typus, einsam und hart geworden durch zu viele unruhige Nächte in Vorstadtmansarden, aber mittlerweile scheint er sich aus dieser Klammer befreit zu haben. Das Schrifttum als geistiger Raum der Nation hieß der Essay, in dem Hofmannsthal seine Gedanken über die Heimatlosen, Suchenden festhielt. Aber nicht für seinen Titel ist der Aufsatz berühmt geworden, sondern für das Schlagwort, unter dem sich die Unverbundenen finden sollen: der „konservativen Revolution“.Zum Beispiel Sahra WagenknechtDas ist gewissermaßen das Kainszeichen, das die Heimatlosen der Jetztzeit mit sich umhertragen. Noch einmal zu Jorinde aus Daniela Kriens Roman. Zwar teilt die den „neuen Konservativismus“ des Vaters nicht, aber sie kann nachvollziehen, wie er zu dieser Haltung gekommen ist. Die neuen Heimatlosen sind die, die man polemisch die „Versteher“ nennt: Pegida-Versteher, Putin-Versteher, Wagenknecht-Versteher. Sahra Wagenknecht, die ja selbst als Pegida-Versteherin und Putin-Versteherin gilt. Die mit ihrem Fremdeln in der Linkspartei und ihrer unzeitgemäßen Erscheinung selbst die Züge der Heimatlosigkeit trägt.Dass sie weniger für ihre Sozialpolitik gelobt wird, als mehr für ihre Migrationspolitik, die unter dem Verdacht steht, „rechts“ zu stehen, macht Sinn: Wir neuen Heimatlosen würden sofort deren Sozialpolitik unterschreiben, aber es gibt da eine Schlagseite, die uns selbst nicht gefällt.Diese Schlagseite lässt uns in Diskussionen oft an einem Ort stehen, wo es uns so gar nicht behagt. Was steckt für eine Psychologie dahinter? Wie geraten wir immer wieder da hin? Ein Beispiel: Neulich schickte mir eine Freundin einen Beitrag über Rassismus in der Medizin. Der Film lief bei der Deutschen Welle, wird also weniger hierzulande geschaut als mehr in der weiten Welt. Eine Frau mit türkischem Migrationshintergrund wurde mit Rückenschmerzen ins Krankenhaus eingeliefert. Nach zehn Tagen wurde sie entlassen, weil eine nervöse Störung diagnostiziert wurde. Ein schrecklicher Fehler: Die Ärzte hatten eine ernste Herzerkrankung übersehen.Die Frau meint nun, das sei nur passiert, weil sie eine Muslima sei. Ein „Experte“ (für was?) erklärt dazu, dass das Klischee besage, dass muslimische Frauen zur Übertreibung neigten, wenn es um Krankheiten geht, und ihm viele Patientinnen zum Opfer fielen. Gleiches meint die muslimische Anwältin der Frau in die Kamera. In mir kommt der böse Gedanke auf: Vielleicht trifft das Vorurteil ja auch ein wenig, ein Mini-My zu, was es Ärzten schwer machen kann, aber den Einzelfall natürlich nicht weniger schlimm. Auch deutsche Hypochonder (ich weiß, wovon ich spreche) könnte eine solche Fehldiagnose grässlich treffen. So „darf“ man natürlich nicht denken. Es geschieht aber.Was mir bei Steffen Mau fehltNun könnten wir die Gedanken einfach für uns behalten und die Welt damit verschonen. Das passiert aber nicht, weil wir, wie es landauf, landab heißt, getriggert wurden (und bestimmt habe auch ich mit obigen Zeilen LeserInnen getriggert): Mit ihren Triggerpunkten haben Steffen Mau und seine Ko-Autoren fraglos das Stichwort zur Zeit geliefert. Allerdings fehlt mir in ihren Überlegungen eine Modifikation. Ja, auch wir werden getriggert, wenn wir in einer Forderung eine Ungerechtigkeit, eine Maßlosigkeit oder einen Zwang erkennen wollen, der kein Ende zu haben scheint. Ein Entscheidendes kommt aber hinzu: Es sind die, die uns eigentlich nahestehen, die uns triggern.Und erst das erzeugt das Gefühl der Peinlichkeit und der Heimatlosigkeit.Denn eigentlich haben wir natürlich nichts gegen einen Film, der Ungleichbehandlung in der Medizin aufzeigt. Eigentlich finden wir das sogar gut. Aber warum muss mit „Rassismus“ um sich geworfen werden, wenn es vielleicht bloß um Mentalitäten geht? Warum so oft die schwersten Kaliber? „Mauvaise fois“ nannte das der Philosoph Jean-Paul Sartre. Wörtlich ein „böser Glaube“, meint es eine Unaufrichtigkeit, eine Selbsttäuschung, vielleicht auch eine Selbstverpanzerung aus einem hohen Konformitätsdruck heraus.Ambivalenz und AmbiguitätstoleranzUnsere Debatten scheinen wenig erfahrungsgesättigt, dafür voller mauvaise fois. Dagegen stellen wir das „Eigentlich“ und das „Aber“. Früher nannte man uns kritisch.Aber so nennt man uns nicht mehr. So würden wir uns selbst nicht mehr nennen. Dabei war ein „kritisches Bewusstsein“ einmal das, was den modernen Menschen per se zu seiner Welt in Distanz gehen ließ. Aber jetzt ist etwas Anderes, nicht unbedingt Besseres im Spiel.Ein Fremdeln, dem wir eine Zeit lang mit dem Wort „ambivalent“ begegnet sind, es war geradezu unser Lieblingswort. Die Dinge sind in Wahrheit kompliziert und vor allem ambivalent. Wenn wir ein Heilmittel parat hatten, dann lautete es „Ambiguitätstoleranz“. Die Fähigkeit, Uneindeutiges aushalten zu können. Ein frommer Wunsch, scheint es, siehe Gaza-Konflikt.Angela Merkel, eine Heimatlose an der StaatsspitzeSo gerät der Heimatlose in eine Haltung, die man in der Rechtsprechung Reservatio mentalis nennt. Man hat Vorbehalte in einer Sache, der man öffentlich zustimmt. Sicherlich, es gibt eine berechtigte Kritik an der allzu wohlfeilen Klage, man „dürfe ja nichts mehr sagen“. Man darf schon, aber es ist stressig. Die Korridore verengen sich schleichend. Daher: Oft Reservatio mentalis.Wenn sich die Reservatio mentalis zeigt, dann symptomhaft. In Umfragen etwa oder in den gesucht wirkenden Argumenten, die Olaf Scholz gegen die Lieferung von schweren Waffen an die Ukraine verwendet, ohne den tiefen Vorbehalt in seiner Haltung zu nennen, denn dann ginge es um Grundsätzliches. Interessanterweise wirkt Scholz in solchen Momenten wie seine Vorgängerin. Angela Merkel war eine Heimatlose an der Spitze des Staates, oder sagen wir es so: Die Kanzlerin war das institutionalisierte Fremdeln der Gesellschaft mit sich selbst.Natürlich kommt zwischendurch der Wunsch in uns auf, aus dieser Heimatlosigkeit auszutreten. Daniela Krien drückt ihn so aus: „Was wir, glaube ich, brauchen, ist eine gemeinsame Erzählung, eine Idee, die uns eint. Und die sollte aus der ökologischen Richtung kommen. Denn wenn wir den Planeten weiter so zerstören, wie wir es jetzt tun, werden wir bald vor Problemen ganz anderer Art stehen.“Die skeptische Generation bei Helmut SchelskyAbgesehen davon, dass wir auch die „gemeinsame Erzählung“ eigentlich nur mit Gänsefüßchen aussprechen wollen, da diese Forderung etwas wohlfeil klingt: Schwanken wir angesichts der sich abzeichnenden ökologischen Katastrophe nicht zwischen der Befürwortung noch der radikalsten Maßnahmen und dem Gefühl, dass es zu spät ist? Und ganz weit hinten im Kopf will eine Stimme einfach nicht schweigen, die sagt, dass nichts so heiß gegessen wird, wie es gekocht wird.Skepsis nennt man letztere Haltung. Sind wir einfach die Skeptiker der Jetztzeit? Die „skeptische Generation“ hat der Soziologe Helmut Schelsky vor Urzeiten eine westdeutsche Jugend bezeichnet, die nach der Jugendbewegung vor dem Krieg und der Katastrophe des Nationalsozialismus von „Ideen“ genug hatte. Etwas von dieser Skepsis ist bestimmt in uns drin. Was auch zeigt, dass wir eher die Älteren sind. Denn es ist ja gerade nicht die Jugend, die wir heute als skeptisch bezeichnen würden. Aus dem Eindruck eines übertriebenen Eifers entsteht leicht ein Ressentiment, das wir wiederum in unsere Gänsefüßchen-Gedanken übersetzen. So wie Katharina Körting es jüngst in diesem Ressort versucht hat, in einem Text, „Ich traue keinem unter 35“, der sich angreifbar macht.Denn eines ist klar, um auf das Kainsmal des Konservativismus zurückzukommen. Wenn er nichts von der Skepsis, der Ambiguitätstoleranz oder Fremdheit hat, wenn er nur voller Argwohn gegen die anderen ist und nicht vor allem gegen sich selbst, dann zum Teufel mit ihm.
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