Freie Wähler: Das Multiversum der freien Anti-Partei
Populismus Was sind das für Leute, die Hubert Aiwanger so stützen? Ein Blick in die Struktur seiner Partei zeigt die Gefahren radikaler politischer Offenheit
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Ausgabe 36/2023
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Aktualisiert am
12.09.2023, 16:45
Eigentlich ist es recht simpel, was in Hubert Aiwangers Kopf so vor sich geht
Collage: der Freitag; Material: Imago Images, Wikimedia Commons
Aus Frust über die etablierten „Altparteien“ eine Partei gründen, das mündet allzu oft ins bekannte trübe Fahrwasser allzu menschlicher Schwächen. Wer einen AfD-Parteitag erlebt hat, weiß, dass diese scheinbar so erfolgreiche Partei in ihrem Inneren kaum eine Alternative ist. Einer von der Linken abgespaltenen Wagenknecht-Initiative würde es wahrscheinlich nicht anders ergehen. Und auch die 2010 als Partei konstituierte „Bundesvereinigung Freie Wähler“ verstand sich lange als Anti-Partei.
„Wir sind mit unserem ideologiefreien Handeln und der jahrzehntelangen Erfahrung in bürgernaher Politik in den deutschen Städten und Gemeinden das Gegenmodell der alten Parteiapparate Berlins“, heißt es noch im Progr
h im Programm zur Bundestagswahl 2021. Das Erscheinungsbild der Freien Wähler in Bayern hebt sich indessen nicht signifikant von dem anderer Parteien ab. Bierzeltwahlkampf als Basisdemokratie deklarieren könnte die CSU auch. Und wie die Affäre um das jugendliche Hetzflugblatt und den bayerischen Wirtschaftsminister Hubert Aiwanger zeigt, schützt die ehrenwerte Herkunft aus unbescholtenen Wählergemeinschaften nicht davor, in die üblichen Gemetzel der Parteien hineingezogen zu werden. Ungeachtet ihrer moralischen Bewertung lenkt die beichtpflichtige „Jugendsünde“ des Parteivorsitzenden der Freien Wähler im Land und im Bund, der Aiwanger ja auch ist, den Blick auf eine bislang noch wenig wahrgenommene Partei.Erstmals in Bayern zog sie 2008 und dann lautstark 2018 mit dem Rekordergebnis von 11,6 Prozent in den Landtag ein und sprang dank der koalitionsbereiten Arme von Markus Söder auch gleich in Regierungsverantwortung. 5,4 Wählerprozente sorgten 2021 auch für sechs Mandate im Landtag von Rheinland-Pfalz.In den Brandenburger Landtag gelangte der Zusammenschluss „Brandenburger Vereinigte Bürgerbewegungen“ BVB und der Freien Wähler 2014 erstmals dank eines Direktmandats. 2019 konnten sie diesen Erfolg mit glatten fünf Prozent knapp wiederholen. Aber Vorsicht, hier fängt es an mit der verwirrenden Freiheit des in vielen Farben schillernden Etiketts der Freien Wähler: Diese Brandenburger sind nicht Mitglied der Bundesvereinigung Freie Wähler! Das Durcheinander der verschiedenen Freie-Wähler-Zusamenschlüsse beginnt da, wo ursprünglich kommunale und regionale Wählergemeinschaften auf überregionaler Ebene organisiert wurden, um die Teilnahme an Landtags- und Bundestagswahlen zu ermöglichen.Freie Wähler und Freie WählerSchon 1952 kam dieser Prozess in Gang, als in Nordrhein-Westfalen der erste Landesverband der nach dem Krieg spontan entstandenen Wählergemeinschaften gegründet wurde. Die Länderorganisationen schlossen sich 1965 wiederum zum „Bundesverband Freie Wähler Deutschland e.V.“ zusammen, eher organisatorisch als politisch motiviert. Für die Europawahlen 2009 wurden zusätzlich eine Bundeswählergruppe und 2010 die „Bundesvereinigung Freie Wähler“ als Partei gegründet. Merke: Der Bundesverband Freie Wähler und die Bundesvereinigung Freie Wähler sind unterschiedliche Organisationen.„Wenn wir vom Verband sprechen, sind die Gruppierungen von Wählergemeinschaften und deren Dachverbände gemeint, wenn wir Vereinigung sagen, dann sind es die Gliederungsebenen der Partei Freie Wähler“, versucht der Bundessprecher Eike Jan Brandau von der Partei der Freien Wähler Irritationen zu beseitigen. Denn es gibt ja nach wie vor eine Vielzahl lokaler und regionaler Wählervereinigungen, auf deren Ticket eine wachsende Zahl von Bürgermeistern oder Landräten ins Amt gelangt. Die Partei schätzt, es gibt etwa 280.000 so Engagierte bundesweit. Mit denen konkurriere man selbstverständlich nicht, sondern unterstütze sich gegenseitig, sagt Sprecher Brandau. „Aber die Bezeichnung Freie Wähler ist als Name nicht schützbar. Wir können höchstens die Nutzung unseres Logos untersagen.“Deshalb reagiert Brandau allergisch, wenn die rechtslastige Fraktion der Freien Wähler im Dresdner Stadtrat angesprochen wird. Zwar gibt es in der sächsischen Landeshauptstadt auch eine unbedeutende Kreisvereinigung der Partei. Doch die anfangs vierköpfige Fraktion des Vereins „Freie Wähler Dresden e. V.“ habe nichts mit der Partei zu tun, stellt Brandau klar.Bekanntestes Mitglied der Fraktion in Dresden dürfte die Buchhändlerin Susanne Dagen sein. 2017 verfasste sie nach Protesten gegen rechte Verlage zur Frankfurter Buchmesse die „Charta 2017“, die auf das Manifest „Charta 77“ der tschechoslowakischen Opposition gegen die Kommunistische Partei anspielt. Mit einem dieser ultrarechten Verlage, dem im sachsen-anhaltischen Dorf Schnellroda ansässigen Antaios-Verlag, pflegt sie beste Kontakte, gestaltet mit der rechten Publizistin Ellen Kositza regelmäßig den Youtube-Kanal „Literarisches Trio“.Zu den Stadtratswahlen 2019 war Dagens Kandidatur für die AfD erwartet worden, Dagen tauchte dann aber bei den Freien Wählern auf – also dem Dresdner Verein. Die machen mit der AfD hin und wieder gemeinsame Sache, blockierten den Dresdner Kulturhaushalt 2021. Der frühere Stasi-Zuträger und Rechtsanwalt Frank Hannig ist im Januar dieses Jahres aus der Fraktion der Freien Wähler ausgeschlossen worden.Wie kann es zu einem solchen Etikettenschwindel wie in Dresden kommen? Und lassen sich die höchst unterschiedlichen kommunalen Interessen überhaupt auf die Ebene eines Bundesprogramms transportieren? Man bräuchte „sehr besondere Umstände, um aus heterogenen kommunalen Wählergruppen eine zum kollektiven Handeln befähigte Partei zu machen“, meint der emeritierte Dresdner Professor für Politikwissenschaft, Werner Patzelt. Solche Umstände erkenne er aber derzeit nicht. Seit dem Aufkommen der AfD gebe es auch „keine besiedelbare Repräsentationslücke mehr“, vor der Patzelt die CDU, deren Mitglied er ist, stets gewarnt hatte.Erwartungsgemäß ist Eike Jan Brandau von der Bundesvereinigung hier anderer Auffassung. Lokal relevante Entscheidungen würden häufig auf der nächsthöheren Ebene getroffen. „Wir wollten eigentlich nie Partei sein, aber das Antreten auf einer höheren Ebene ist notwendig“, räumt er ein. Und: „Wenn es nur um Politik vor Ort geht, gehen Skalierungseffekte verloren!“ Von denen leben die Freien Wähler, wie jede andere Anti-Partei.Das Programm zur Bundestagswahl 2021 schien denn auch dem Goethe-Wort „Wer vieles bringt, wird manchem etwas bringen“ zu folgen. Wertkonservative können sich ebenso darin wiederfinden wie Sozialromantiker und Nachhaltigkeitsökologen. „Wir sind eine moderne, liberal-konservative Bürgerbewegung der Vernunft und des gesunden Menschenverstands“, stellt sich die Partei vor. „Eine Gesellschaft ist mehr als eine lose Ansammlung von rücksichtslosen Individualist*innen“, geht es weiter. Forderungen nach einer regelbasierten solidarischen Gesellschaft überraschen ebenso wie geradezu naive wirtschaftsethische Ansätze, um einen globalisierten Turbokapitalismus zu domestizieren. Das Plädoyer für erneuerbare Energien und den Atomausstieg klingt grün. Region und Heimat dürfen nicht fehlen, Asylverfahren sollen restriktiver geregelt werden. Kultur kommt nur als Appendix vor und Ost-West-Probleme tauchen überhaupt nicht auf. Hingegen ist auffallend oft von „Anstand“ die Rede.Und die AfD freut sichErschwert solche programmatische Heterogenität auch die praktische Erkennbarkeit? „Die Freien Wähler haben insbesondere in Sachsen ein Relevanzproblem, beim Wähler wie beim wissenschaftlichen Beobachter“, kommentiert Politikwissenschaftler Steven Schäller von der TU Dresden. Bei der AfD-Fraktion im Dresdner Stadtrat freut man sich indes über die Zusammenarbeit, die gut funktioniere. Aber: „Die Stadträte der FW-Fraktion verfolgen zu oft jeweils eine eigene, persönliche Agenda, eine klare, gemeinsame Linie ist nur selten zu erkennen“ konstatiert AfD-Fraktionschef Thomas Ladzinski.Der Bundessprecher der Freien Wähler Brandau räumt diese Risiken ein. Besonders in der Gründungsphase hätten sich viele „Parteienhopper“, also Glücksritter auf der Suche nach einer politischen Heimat, bei den Freien Wählern eingefunden. Einer dieser Durchläufer, wiederum aus Sachsen, ist Steffen Große, als CDU-Mann ehemals Sprecher des Kultusministeriums in Dresden. Erst mutierte er zum Landesvorsitzenden der Freien Wähler, wurde dann aber vom Bundesvorstand wegen „mangelnder Abgrenzung zu dezidiert rechten Persönlichkeiten“ seines Amtes enthoben. Im Mai dieses Jahres tauchte Große dann an der Spitze der Kleinstpartei Bündnis Deutschland wieder auf. Sie will eine konservative Zielgruppe ansprechen und dabei mit der AfD wie auch der Union konkurrieren – und hat Landesverbände in allen Bundesländern.Die Partei der Freien Wähler versucht, sich gegen den sie umwehenden muffigen Geruch zu wehren. Nach der Bundestagswahl 2021 gab es auch hier einen Unvereinbarkeitsbeschluss gegenüber der AfD und der Kleinstpartei Basis. Schon 2009 wurden die Landesverbände von Bremen und Brandenburg wegen „radikaler Tendenzen“ ausgeschlossen. Der brandenburgische Verfassungsschutz hatte vor Tarnkandidaten der NPD bei den Freien Wählern gewarnt. Aufnahmewillige werden nun genauer überprüft, ob sie – und sei es als Durchläufer – einen „Flurschaden“ anrichten könnten.Ist aber nicht doch eine Affinität gegenüber Milieus zu beobachten, aus denen offenbar ein Hubert Aiwanger kommt? 2009 besetzten in Bremen ehemalige Anhänger der Schill-Partei „Rechtsstaatliche Offensive“ Spitzenpositionen des Landesverbandes. In Bayern lockte Aiwanger schon 2012 mit Attacken gegen die EU Rechtsextreme an, und die NPD rühmte sich, die Freien Wähler zu unterstützen.Warum mündet die verbreitete Parteienverdrossenheit nicht in viel höhere Wahlerfolge der Freien Wähler? Zur letzten Bundestagswahl erreichten sie gerade einmal 2,4 Prozent der Zweitstimmen. Man kenne zwar die Freien Wähler aus dem lokalen Umfeld, sei aber von deren Antreten bei höheren Wahlen überrascht, erklärt Eike Jan Brandau dies mit der relativen Unbekanntheit der Partei. Gleichwohl ist deren Mitgliederzahl auf über 8.000 angewachsen, die Hälfte davon aus Bayern. Der Einzug in den Wiesbadener Landtag bei der bevorstehenden Hessenwahl gilt nach Umfragen als wahrscheinlich.Die Freiheit, die die Freien Wähler im Namen führen, scheint im Hegel’schen Sinn der Einsicht in die Notwendigkeit zu weichen, je höher die Ebene ihrer politischen Vertretung angesiedelt ist. Das Profil, das diese Einsicht annimmt, steht zumindest in Bayern deutlich rechts der Union.Placeholder infobox-1