Der mögliche Sozialismus

Zirkeltag Gerade im "eingemauerten" Westberlin hatte man allen Anlass, über einen "möglichen Sozialismus" nachzudenken. 28 Jahre später sind genau diese Gedanken wieder aktuell
Auch am 11. November 1989 wird der Fall der Mauer in Berlin noch gefeiert. Seither schien das Thema Sozialismus vollkommen obsolet geworden zu sein. Heute, gut 28 Jahre ist das anders
Auch am 11. November 1989 wird der Fall der Mauer in Berlin noch gefeiert. Seither schien das Thema Sozialismus vollkommen obsolet geworden zu sein. Heute, gut 28 Jahre ist das anders

Foto: Gerard Malie/AFP/Getty Images

Heute haben wir den „Zirkeltag“, das heißt, es ist seit dem Fall der Berliner Mauer so viel Zeit vergangen wie während ihres Bestehens: 28 Jahre, zwei Monate und 26 Tage. Der Artikel dazu in Wikipedia wird zur Löschung vorgeschlagen, weil es sich um eine Medienblase handle. Es ist aber doch ein Thema, das zum Nachdenken anregt. Schon dass Westdeutschen anderes dazu einfällt als Ostdeutschen, immer noch, nach so langer Zeit, stimmt nachdenklich. Hier in diesem Text blickt ein Westdeutscher zurück, der in Westberlin lebte.

Ludwig Erhardt, Christdemokrat, Bundeswirtschaftsminister unter Konrad Adenauer und kurzzeitig dessen Nachfolger im Bundeskanzleramt, gilt als Initiator des westdeutschen „Wirtschaftswunders“ der 1950er Jahre. Dass er sein wirtschaftspolitisches Konzept als sozialistisches glaubte anpreisen zu müssen, ist heute in Vergessenheit geraten. Es geschah, als die DDR gegründet worden war und man noch fürchtete, von dort könne eine Bedrohung der Legitimation und Hegemonie des Kapitalismus ausgehen. Noch nach dem Mauerbau 1961 ist diese Furcht lebendig geblieben. Im SPIEGEL konnte man noch 1974 lesen, die DDR sei das zehntgrößte Industrieland der Welt, liege „gemessen an der industriellen Produktion etwa zwischen Italien und Kanada“. Der „reale Sozialismus“ der DDR war zwar nicht anziehend, hielt aber dazu an, über den „möglichen Sozialismus“ nachzudenken. Der „Rheinische Kapitalismus“, wie man ihn heute nennt, musste sich nicht mehr sozialistisch nennen, seinen viel besser als heute ausgestatteten Sozialstaat aber unbedingt aufrechterhalten. Die „Systemkonkurrenz“ zwang dazu.

So stellt es sich dem rückblickenden Westdeutschen dar, der dem Rheinischen Kapitalismus inzwischen nachtrauert. Den Mauerbau hat er seinerzeit scharf verurteilt, auch wenn er wusste, dass eins der Motive der DDR-Führung darin bestand, der Stärkung des „Wirtschaftswunders“ durch in der DDR ausgebildete und dann flüchtige Fachkräfte einen Riegel vorzuschieben. Aber heute weiß er auch, dass nach dem Mauerfall – dem Zusammenbruch des „realen Sozialismus“ – der Kapitalismus zu seiner scham- und rücksichtslosen Urgestalt, die sich im 19. Jahrhundert ausgebildet hatte, ohne Hemmung und Zögern zurückgekehrt ist. Für den Westberliner hat die Mauerzeit noch eine zusätzliche Bedeutung, falls er nämlich auch „68er“ gewesen und irgendwie bis heute geblieben ist. 28 Jahre „eingemauert“ zu leben war nicht das große Problem. Der Westberliner hatte alles, was er brauchte, den Transitweg in den Westen sowieso, aber auch den Wannsee, den Grunewald und eine aufregende Urbanität, an deren Kulturleben er infolge westdeutscher Subventionen mit wenig Geld teilnehmen konnte. Diese Subventionen flossen aber deshalb, weil Westberlin das exponierte Schaufenster des Westens war. Eines Westens, der sich damals hütete, jemanden wie Donald Trump zu seinem Repräsentanten zu machen.

Aber schon damals gab es finstere Gestalten in seiner Peripherie, den Schah von Persien oder Moise Tschombe, Staatschef des Kongo, die in Westberlin, dem Schaufenster, genauso ausgestellt und gefeiert werden mussten wie John F. Kennedy, jener US-Präsident, der bald nach dem Mauerbau kam und dem alle Westberliner zujubelten. Gegen Tschombe gab es eine kleine Demonstration sozialistischer Studierender, gegen den Schah schon eine recht große, und als in diesem Zusammenhang der Student Benno Ohnesorg von einem Westberliner Polizisten ermordet wurde, begann die „68er“ Revolte. Sie begann nicht zufällig in der exponierten eingemauerten Stadt. Die Revoltierenden hatten gerade hier allen Anlass, über den „möglichen Sozialismus“ nachzudenken. Bald versiegte ihr Impuls, und nach dem Mauerfall schien das Thema Sozialismus vollkommen obsolet geworden zu sein. Aber heute, 28 Jahre später, ist es wieder aktuell geworden. Dass keine Mauer mehr steht, gegen Ostdeutsche jedenfalls nicht – während man, jetzt gesamtdeutsch, gegen Nichteuropäer eine „Obergrenze“ errichtet –, ist für den Kapitalismus gewiss ein Pluspunkt. Daran, dass die Menschen seine Hässlichkeit sehen, ändert es aber nichts.

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Geschrieben von

Michael Jäger

Redakteur „Politik“ (Freier Mitarbeiter)

Michael Jäger studierte Politikwissenschaft und Germanistik. Er war wissenschaftlicher Tutor im Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin, wo er bei Klaus Holzkamp promovierte. In den 1980er Jahren hatte er Lehraufträge u.a. für poststrukturalistische Philosophie an der Universität Innsbruck inne. Freier Mitarbeiter und Redaktionsmitglied beim Freitag ist er seit dessen Gründung 1990. 1992 wurde er erster Redaktionsleiter der Wochenzeitung und von 2001 bis 2004 Betreuer, Mitherausgeber und Lektor der Edition Freitag. Er beschäftigt sich mit Politik, Ökonomie, Ökologie, schreibt aber auch gern über Musik.

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