Konsumismus-Kritik mit Richard Wagner

Tannhäuser Es ginge um den Erweis, dass vieles, was wir einkaufen, alles andere als sexy ist

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Das Richard-Wagner-Festspielhaus in Bayreuth
Das Richard-Wagner-Festspielhaus in Bayreuth

Foto: Christof Stache/AFP/Getty Images

Die Inszenierung von Richard Wagners Tannhäuser, mit der am 25. Juli die diesjährigen Bayreuther Festspiele eröffnet wurden, wurde in der Freitag-Community von Thomas.W70 hart kritisiert, während ich sie gut und sogar bemerkenswert fand. Da der Opern- und Theaterregisseur Tobias Kratzer eine ökologische Deutung versucht hat, stößt das Thema vielleicht über die Musik hinaus auf Interesse, deshalb die folgenden Überlegungen.

Den Tannhäuser ökologisch zu interpretieren, ist alles andere als aufgesetzt, man staunt vielmehr, wie haargenau die im ersten Akt aufgebaute Problematik auf heutige Debatten passt. Vor allem gewinnt man umgekehrt den Eindruck, hier werde endlich einmal ein Zugang vorgeschlagen, der die Wagner-Oper überhaupt nachvollziehbar verständlich macht. Mir jedenfalls fiel es immer schwer zu begreifen, „was das sollte“: diese Selbstanklage eines Erotomanen, der an Wagner selbst erinnert, und zwar eines Wagner noch vor der 1848er Revolution (die Oper wurde 1845 uraufgeführt), als er nicht schon Schopenhauer folgte, sondern der Philosophie Ludwig Feuerbachs mit ihrer Feier der sinnlichen Liebe; eine Selbstanklage, die den Ritter und Sänger Tannhäuser vor allem deshalb zur Verzweiflung treibt, weil er auch wieder gar nicht bereit ist, sie ernsthaft zu betreiben. Er durchbricht den Konsens der meisten Minnesänger, die von ihnen angebeteten adligen Frouwen ohne den Anspruch körperlicher Berührung zu verherrlichen. Nachdem er den höfischen Umkreis verlassen hat, um in den „Venusberg“ einzukehren, wird er aber auch mit der heidnischen Göttin nicht glücklich, sondern verlässt sie unter schweren Mühen, die man natürlich gut nachvollziehen kann.

Zum Hof zurückgekehrt, nimmt er an einem „Sängerkrieg“ teil, als dessen Siegespreis Elisabeth ausgesetzt ist, die Tochter des Thüringer Landgrafen. Jeder Bewerber soll in seinem Lied das Wesen der Liebe besingen. Alle außer Tannhäuser feiern die Jungfräulichkeit, weil der „Quell“ der Liebe viel zu heilig sei, als dass man ihn antasten dürfe. In aller Form trägt das Wolfram von Eschenbach vor, Tannhäusers Freund und Gegenpart. Dieser selbst will die Liebe jedoch auch sinnlich verstehen; als er, wahrscheinlich nicht zum ersten Mal, die Empörung wahrnimmt, die er damit auslöst, lässt er sich zum Bekenntnis seines Aufenthalts bei der heidnischen Göttin verleiten und wird daraufhin fast erschlagen. Auch Elisabeth ist entsetzt, doch ihre Gefühle sind verworren – sie liebt Tannhäuser und reagiert deshalb ambivalent auf seine Haltung, obwohl sie zugleich das Jungfrauen-Ideal verinnerlicht hat -, und da sie hohes Ansehen genießt, kann sie ihn retten unter der Maßgabe, er solle als Büßer nach Rom zum Papst pilgern, um dort Vergebung zu finden. Tannhäuser tut das, doch der Papst vergibt ihm nicht. Der Sänger will nun zur Venus zurück, doch im Kampf, den sie und Elisabeth um ihn austragen, letztere mit ihrem Opfertod (der wie häufig bei Wagner „einfach so“ geschehen sein soll, ohne äußere Einwirkung), setzt diese sich durch; er stirbt ebenfalls, in der Gewissheit jedoch, dass wenn nicht der Papst dann doch Gott ihm vergeben hat.

Man fragt sich, warum Wagner diese Handlung, die er aus verschiedenen vorhandenen Stoffen kompiliert hat, in sein Jahrhundert holte. Der Rückgriff aufs Mittelalter war zwar Usus in der deutschen Romantik, doch der Eros wurde von den Dichtern sonst nicht diskriminiert. Und was können wir heute damit anfangen? Aber das Problem liegt vor allem bei Wagner selbst, der ja alles andere als ein Eros-Verächter war und sich dennoch, in einer Zeit, als schon die allermeisten Romane Balzacs vorlagen, zu einer so anachronistisch scheinenden Erörterung bemüßigt fühlte. Hier greift nun Kratzer ein mit einer Interpretation, die darauf zielt, Tannhäusers Haltung als dritte Position zwischen zwei Konformismen, die ihm beide unmöglich sind, begreiflich zu machen. Dazu muss er die Venus-Rolle mit einer Bedeutung aufladen, die sie bei Wagner nicht hat, nicht auf der Oberfläche jedenfalls. Bei Wagner sieht man nur die Alternative Beischlaf oder Jungfräulichkeit. Tertium non datur? Doch: Denn der Venusberg steht bei Kratzer für den Konsumismus. In seiner Inszenierung bewegen sich Venus und Tannhäuser, solange er den Berg nicht verlässt, zwischen den beiden zentralen Symbolen, die man dem Konsumismus in den letzten Jahrzehnten zugewiesen hat, weil ihr ökologischer Schaden auch tatsächlich immens ist, nämlich dem Auto und dem Hamburger.

In Begleitung eines LGBT-Mannes und eines Zwergen mit Trommel, der offenbar an den Günter Grass-Roman Die Blechtrommel erinnern soll, hausen beide auf einer Art Campingplatz, nachdem sie sich vorher glücklich dem Autogeschwindigkeitsrausch hingegeben haben. Es ist alles sehr billig, sie stehen wahrlich nicht auf der Sonnenseite. Aber sie leben nun eben, wie ihre Gesellschaft lebt, und in Tannhäuser regen sich Skrupel, er will weg und will es auch wieder nicht. Er spricht vom Frühling und vermisst die Natur, obwohl es doch aussieht, als hätte er sie. „Venus“ ist wunderbar besetzt mit einer lebenshungrigen Frau, die gar nicht begreift, was ihren Partner denn auf einmal so nervös macht. Sie sieht doch gut aus und es ist schön, miteinander zu schlafen. Tannhäuser, der das auch findet, begreift es ebenso wenig. Zwei hilflose Menschen. Er tritt in diesem ersten Akt ganz passend als Clown auf, der gar nicht weiß, wie ihm geschieht, was ihn aber nicht abhält zu handeln. Man kann durchaus an den Bajazzo denken, der es auf einmal nicht mehr aushält, „das Theater“ noch weiter mitzuspielen, als ginge es nicht um ernste Dinge. Aber was nun? In Elisabeths heiliger Welt gibt es keinen Konsumismus, das ist aber ja kein Grund, sie nicht berühren zu wollen.

Diese Deutung ist der Wagner-Handlung durchaus nicht äußerlich, vielmehr lässt sie hinter der Erinnerung an die Zeit des Minnesangs eine noch tiefere und viel wichtigere Vergangenheit auftauchen, diejenige der ersten christlichen Jahrhunderte nämlich, in der die Kirchenväter die Jungfräulichkeit als ideale Lebensform entwarfen. Das Buch, das Michel Foucault darüber geschrieben hat, ist in diesem Jahr auf deutsch erschienen. Man muss auch in ihm ein wenig zwischen den Zeilen lesen: Es interessiert Foucault nur am Rande, dass die Christen sich der heidnischen Opferreligion verweigerten, von der die Lebenswelt um sie herum bestimmt war. In diesem Kontext stand das Lob der Jungfräulichkeit, denn der Eros wurde als Form betrachtet, in die Welt verwickelt zu sein. Was ja nicht etwa verrückt war. Der Apostel Paulus war noch so optimistisch gewesen, zu meinen, die heidnische Ehefrau eines Christen werde im Zusammensein beider miterlöst, aber man kann sich gut vorstellen, dass später andere Erfahrungen gemacht wurden. Dennoch war Jungfräulichkeit eine fatale Lösung dieses Problems, durch welche die katholische Kirche noch heute, in Gestalt des Priester-Zölibats und seiner kriminellen Folgen, mit einem Bein in der Hölle steht. Womit aber könnte der sexuelle Verzicht besser verglichen werden als mit dem ökologischen Verzicht? Diesen zu propagieren, ist nicht weniger fatal als das Lob der Jungfräulichkeit zu singen.

Besser gesagt, ist es umgekehrt so, dass die Anmutung, auf konsumistischen Konsum zu verzichten, deshalb so wütend zurückgewiesen wird, weil sie unvermeidlich als Aufforderung zum Sexualverzicht wahrgenommen wird. Die kapitalistische Werbung hat seit nun schon mehr als einem Jahrhundert alles getan, diese Konfusion in den Köpfen der Menschen zu verankern. Muss man an die halbnackten Frauenkörper erinnern, die sich auf der Karosserie räkelten, bevor die Industrie zu der Lüge überging, sie zum Schein in ökologische Kontexte zu stellen? Das konnte sie tun, ohne dass Konsumieren aufhörte, „sexy“ zu sein. Die Aufgabe würde darin bestehen, diese Konfusion aufzulösen. Es ginge darum zu erweisen, dass vieles, was wir einkaufen, alles andere als sexy ist. Es links liegen zu lassen, heißt gewinnen und nicht verzichten, schon gar nicht auf den Eros im engeren und weiteren Sinn. Man braucht heute auch nicht mehr die Geliebte oder den Geliebten zu verlassen, wenn sie oder er politisch gesehen im Lager der Konformisten steht. Der paulinische Optimismus, demzufolge der noch konformistische Partner letztendlich „miterlöst“ werde, ist wieder am Platz.

Um zu Kratzers Inszenierung zurückzukehren, ist noch ein Weiteres positiv hervorzuheben, nämlich wie sie auf Wagner als solchen eingeht. Es ist ein Geniestreich gewesen, ihn selbst als den Papst auszumachen, zu dem Tannhäuser vergeblich pilgert. Denn in seinen späten Opern hat er den Standpunkt der Jungfräulichkeit, den er im Tannhäuser noch wenn auch orientierungslos angreift, in allem Ernst und weit schärfer, als es in der christlichen Version geschah, selbst eingenommen. Was im Tannhäuser nur erst anklingt, wird im Tristan und im Parsifal zur Wahrheit erhoben: Jegliches „Sehnen“ sei als solches von Übel. Dabei hatte Wagner vor 1848 noch die Freiheit zum Genießen gefeiert, woran Kratzer mit einer mehrmals gezeigten Tafel erinnert. Es ist also richtig, Wagner seinerseits anzugreifen, wenn man ihn aufführt. Er führt in die Irre und das muss laut ausgesprochen werden, besonders in Bayreuth, wo Frau Merkel, Herr Schröder und andere politische Versager in der ersten Reihe sitzen, als ob sie nun gerade hier den Ausweg aus ihrer Feigheit vorgezeichnet bekämen. Die Inszenierung kann derzeit unter BR Klassik angeschaut werden.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Michael Jäger

Redakteur „Politik“ (Freier Mitarbeiter)

Michael Jäger studierte Politikwissenschaft und Germanistik. Er war wissenschaftlicher Tutor im Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin, wo er bei Klaus Holzkamp promovierte. In den 1980er Jahren hatte er Lehraufträge u.a. für poststrukturalistische Philosophie an der Universität Innsbruck inne. Freier Mitarbeiter und Redaktionsmitglied beim Freitag ist er seit dessen Gründung 1990. 1992 wurde er erster Redaktionsleiter der Wochenzeitung und von 2001 bis 2004 Betreuer, Mitherausgeber und Lektor der Edition Freitag. Er beschäftigt sich mit Politik, Ökonomie, Ökologie, schreibt aber auch gern über Musik.

Michael Jäger

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