Wie der Kotau der Regierung Merkel vor dem türkischen Autokraten Erdoğan vollzogen wurde, ist in der FAZ wohl richtig beschrieben worden: Man steckt dem Spiegel zu, man wolle sich von der Armenien-Resolution des Bundestags „distanzieren“, und hat damit einen Anlass geschaffen, die Distanzierung als Distanzierung von der Distanzierung auszusprechen. Regierungssprecher Seibert hätte auf den Spiegel gar nicht reagieren müssen, tat es aber unaufgefordert, indem er sagte, die Regierung werde sich nicht distanzieren, und im Übrigen habe die Armenien-Resolution gar keine rechtliche Verbindlichkeit.
Es wäre freilich nicht besser geworden, wenn Seibert geschwiegen hätte. Der Kotau wurde ohnehin schon vollzogen, als Kanzlerin und Außenminister beim Beschluss der Resolution durch Abwesenheit glänzten. Seiberts Spruch zeigt nur, wie viel der Regierung daran liegt, Erdoğan um wirklich jeden Preis zu beruhigen, damit er nicht aus dem Vertrag aussteigt, der ihn verpflichtet, keine Flüchtlinge mehr nach Europa zu lassen. Aber das ist eine schändliche Vorsicht. Wenn es rechtswidrig ist, Verträge zu brechen (pacta sunt servanda), ist es auch rechtswidrig, den möglichen Vertragsbruch in der Form zu billigen, dass man für die Einhaltung des Vertrags einen Preis zahlt. Das Problem liegt aber noch tiefer, denn in diesem Fall ist der Vertrag schon selber schändlich gewesen. Soll man sagen, er sei als deutsche „Realpolitik“ nachvollziehbar? Es ist ja schwer vorstellbar, dass Deutschland noch weitere ein, zwei, drei Millionen Flüchtlinge aufnimmt. Aber wenn man die Frage so stellt, geht alles durcheinander.
Der Vertrag mit der Türkei wurde von der EU abgeschlossen. Derselben EU, deren Staaten sich mehrheitlich weigern, die Flüchtlinge sinnvoll untereinander zu verteilen. Die zweite Tatsache bedingt die erste kausal. Stiege Ankara aus dem Vertrag aus, würde nicht Deutschland, sondern die EU vor der Alternative stehen: entweder die Flüchtlinge mit militärischer Gewalt aufzuhalten oder sich endlich auf einen Verteilungsschlüssel einzulassen. Deutschlands Rolle wäre es, auf die absolute Schändlichkeit der militärischen Option hinzuweisen. Wenn sich innerhalb der EU dann immer noch nichts tut, dann stellt sich die Frage, warum Deutschland bereit ist, Nettozahler der EU zu sein. Das ist dramatisch, aber die Flüchtlingsströme sind es noch mehr, sie kündigen eine Hauptkonstante der näheren Zukunft an. Wer das nicht erkennt, macht keine Realpolitik, sondern lebt in einer Traumwelt.
Es handelt sich also gar nicht um eine deutsche Frage. Aber dennoch hat sie auch einen innenpolitischen Aspekt. Der liegt in der nicht endenden Debatte über die „Obergrenze“. Die Frage, ob es eine geben soll, ist falsch gestellt und ist antieuropäisch – das muss einmal ausgesprochen werden. Falsch gestellt ist sie, weil sie die wahre Alternative verdeckt, ob eine EU mit Verteilungsschlüssel eine „Obergrenze“ braucht; antieuropäisch, weil sie so tut, als ob es Europa gar nicht gäbe, und weil sie Wind in den Segeln aller europäischen Rechtspopulisten ist. Warum scheut sich die Bundesregierung, das laut zu sagen? Sie weicht vor einer außen- und innenpolitischen Konfrontation zurück, die so oder so kommen wird – was offenkundig das Gegenteil von Realpolitik ist. Nebenbei gesagt fällt sie gerade in der Armenienfrage ihrerseits hinter Europa zurück, das sich in der Einschätzung, es handle sich um Völkermord, seit langem einig ist.
Kommentare 15
Wichtiger als der Satz, dass der Beschluss keine rechtliche Bindung hat, war der Satz, dass es nicht die Sache des Parlamentes ist, welcher über Völkermord oder nicht zu befinden hat, sondern die Aufgabe dafür zuständiger Gerichte!
Wie meinst du das?
Man kommt einem Größenwahnsinnigen wie Erdogan nicht durch Katzbuckeln bei. Das bestätigt ihn nur in seinen Fantasien. Es ist lange, lange überfällig, der Türkei mal eine Breitseite harter Dimplomatie zu geben.
>>...die „Obergrenze“. Die Frage, ob es eine geben soll, ist falsch gestellt...<<
Ja.
Bei der Schaffung von Fluchtursachen ist die Grenze längst überschritten. Das zeigt ja die zunehmende Flucht von dort, wo man nicht mehr halbwegs erträglich leben kann. Aber da will natürlich niemand dran, ausser mit inhaltlosem Wortgeklingel. Denn Fluchtursachen abzubauen wäre ja profitschädigend, und das träfe die abendländische Wertegemeinschaft dort, wo es weh tut: Bei den in € und $ zählbaren Grundwerten.
wenn es herrn erdogan nur darum ginge,
die türkei für damals rein-zuwaschen
vom vorwurf des genozids,
ein reines image des staates zu erzwingen....
befürchte ich,
daß die nach-trägliche schuld-tilgung
einer neueren ethnischen säuberung:
gegen die kurden,
vorschub leisten soll.
und der deutsche nachfolge-staat des kaiser-reichs
ist wieder involviert...
Es ist sinnvoll nicht zu bestreiten, dass die Regierung zur Frage der Anerkennung des Völkermordes an den Armeniern einen erstklassigen Eiertanz veranstaltet hat. Denn es gelingt selten, offensichtlich gegensätzliche Standpunkte so darzustellen, als gäbe es tatsächlich keinen Gegensatz. Tatsache ist, dass das Parlament den Völkermord an den Armeniern einen Völkermord genannt hat und dass die Regierung dieser zutreffenden Sichtweise jedenfalls nicht beigepflichtet hat, weil sie den Despoten Erdogan nicht vergrätzen möchte, wofür sie ihrerseits Gründe hat. Allerdings kann sich die Regierung auch nicht hinstellen und sagen: Leute, ihr habt ja recht, aber wir können Herrn Erdogan nunmal nicht vergrätzen und deshalb machen wir diesen Eiertanz mit. Denn das hätte Herrn Erdogan ja auch nicht gefallen. Deshalb zieht es die Regierung vor, so zu tun, als könne das Parlament sagen was es wolle; darauf komme es nicht an, entscheidend sei vielmehr, dass die Resolution des Deutschen Bundestages nicht rechtsverbindlich und die Regierung nicht daran gebunden sei. Dass das bei Herrn Erdogan so ankommt, als sei der deutsche Bundestag eine Quasselbude, die man nicht ernst nehmen müsse, ficht die Regierung um ihrer eigenen politischen Ziele willen nicht an. Tatsächlich geht es dabei allerdings um nicht mehr und nicht weniger als darum, dass die Regierung dem Parlament in den Rücken gefallen ist, auch wenn sie sich beeilt, zu versichern, dass dies keineswegs der Fall sei, weil das Parlament selbstverständlich das Recht und die Möglichkeit habe, sich zu jedem Thema zu äußern, wann immer es das für richtig halte und dass die Bundesregierung dieses souveräne Recht der deutschen Volksvertretung unterstütze und verteidige. Das Bekümmerliche dabei ist, dass sich das Parlament damit zufrieden gibt. Die Abgeordneten erkennen natürlich genau, dass ihnen die Regierung in den Rücken gefallen ist, aber sie begehren nicht auf sondern lassen es damit bewenden; will heißen, sie spielen zu ihren eigenen Lasten ein mieses Spiel mit. Erbärmlicher geht es kaum. Diese Abgeordneten müssen sich nicht darüber wundern, dass ihre Reputation im Volk stramm nullstrebig ist. Auf der einen Seite sagt man mutig: Völkermord muss Völkermord bleiben - und auf der anderen Seite wehrt man sich nicht dagegen, wenn einem die Regierung in den Rücken fällt und sagt: aber ohne uns. Denn das heißt ja nichts anderes als dass wir, die Regierung, nicht dieser Meinung sind. Das ist ein erstklassiges Armutszeugnis in politischer Kultur. Was hängen bleibt ist die Tatsache, dass diese Regierung nicht den Mut hat, einem Despoten die Stirn zu zeigen, mag sie es sich auch als Erfolg zu rechnen, damit erreicht zu haben, dass deutsche Abgeordnete wieder nach Incirlik fahren dürfen, um Bundeswehrsoldaten zu besuchen. Dieser „Sieg“ ist ein Pyrrhussieg. Denn Despoten, wie Erdogan, ziehen daraus vor allem den Schluss, dass sie über das deutsche Parlament lachen und die Bundesregierung vor sich her treiben können. Allerdings gibt es auch in der sogenannten Realpolitik einen Punkt, an dem man sich fragen muss, ob einem minimales Zugeständnis wichtiger ist als seine Selbstachtung. Dieses Problem stand hier zur Diskussion und die Bundesregierung hat es zulasten der Selbstachtung gelöst. Es wird wohl nicht lange dauern, bis Herr Erdogan in ähnlicher Weise erneut in Erscheinung tritt. Denn sein Ziel liegt ja offen auf der Hand: Er will sich vor seinen türkischen Landsleuten in Deutschland profilieren, indem er sich in die deutsche Innenpolitik einmischt und wozu ihm offensichtlich jedes Mittel recht ist. Es mag ja sein, dass sich die Bundesregierung dafür nicht zu schade ist. Es mag auch sein, dass die Bundesregierung meint, den Deutschen jeden Kotau vor Herrn Erdogan zumuten zu können. Aber sie irrt: Es gibt viele BürgerInnen, die solche Bücklinge nicht schätzen - und AfD wählen. Es wäre gut, wenn sich die Bundesregierung dessen bewusst würde. Denn sonst wird es ihr spätestens im September 2017 hart auf die Füße fallen.
Danke für den guten und m.E. absolut richtigen Zusatzkommentar.
Die Bundesregierung hat das einig richtige getan. Nicht ein Parlament bestimmt ob ein Völkermort geschehen ist oder nicht, sondern Gerichte mit unabhängiger Historikerkommision. Etliche internationale Historiker sind nämlich der Ansicht, dass zwar beiderseitig Kriegsverbrechen stattgefunden haben, verneinen aber ausdrücklich einen Völkermordabsicht. Zudem war das osmanische Reich nicht Angreifer, sondern Angegriffener und musste von seinen Verteidigungsrecht gebrauch machen. Diese Sache ist also noch gar nicht endgültig geklärt worden. Und Klären können hier nur die dafür zuständigen Experten. Wenn die Bundesregierung nicht so gehandelt hätte, hätte sie sich vor der Weltgemeinschaft lächerlich gemacht.
Und mir gefällt es ganz und gar nicht, wenn in den Medien, egal hier oder woanders, dauernd die gesamte Türkei auf Erdogan reduziert wird. Das ist einfach unintelligentes verhalten, dass ständig alles und jedes verdirbt.
Die Türkei nicht auf Erdogan reduzieren, da haben Sie recht. Aber wer tut das denn? In welchem Medium geschieht das? Ich kenne keins.
Wenn Sie aber schreiben: "Klären können hier nur die dafür zuständigen Experten. Wenn die Bundesregierung nicht so gehandelt hätte, hätte sie sich vor der Weltgemeinschaft lächerlich gemacht.", dann sind allenfalls Sie es, die sich lächerlich macht. Die Experten haben längst gesprochen und die Weltgemeinschaft ist auch weit entfernt, über die Völkermord-Aussage erstaunt zu sein.
Ich habe internationale Experten gehört die glaubwürdig sind und das Gegenteil behaupten! Was nun? Ich kann nicht sagen ob es so war oder nicht so war. Ich werde nicht glauben, dass es so war nur weil irdendein Parlament behauptet, dass es so war. Mich wird einig überzeugen, wenn das Internationale Gerichtshof eingeschaltet wird und wenn dieses Gericht zu dem Urteil kommt, dass es einen Völkmord gegeben hat, werde ich mit sicherheit wissen, was damals tatsächlich geschehen ist!!!
Dann soll doch die armenische Regierung die Sache vor den Internationalen Gerichtshof bringen. Parteiische oder inkompetente Experten finden sich wie Sand am Meer.
Erzählen Sie mir also nicht so einen unsinn!
Natürlich hat keiner das Recht derartiges zu tun. Es sind aber auch huntertausende Türken massakriert worden in diesem Weltkrieg und jetzt?
Ich möchte wie so viele andere auch, dass Klarheit geschaffen wird. Es ist aber auch so, dass es in vielen Dörfern türkische Männer, Frauen und Kinder massakriert wurden, das könnte man auch als Völkermord betrachten. Ich sage, dann soll das vor dem Internationalen Gerichtshof aufgearbeitet und endgültig gekläert werden. Nichts weiter....
Und Sie haben noch weniger Ahnung als ich, denn Sie sprechen nur deutsch, während ich deutsch und türkisch spreche, würde ich mal sagen.
Daß Sie auch türkisch sprechen, wußte ich nicht. Für meine Formulierung "... dann sind allenfalls Sie es, die sich lächerlich macht" möchte ich mich unter diesen Umständen bei Ihnen entschuldigen.
Ein Internationaler Gerichtshof _ s. Den Haag _ ist MM nach auch nicht die Instanz, von der wir nach unserem Verständnis der Rechtsprechung gerechte Urteile erwarten können. Vor allem eine Bewertung was wann wo ein Genozid war. Das sollte im Grunde die Aufgabe eines kommissarischen Ermittlungsteams sein _ schon klar, dass einigermaßen objektive Personen sehr schwer zu finden sind.
Es sprechen sehr viele Indizien für einen strukturell geplanten Völkermord, Ihr Argument, dass das osmanische Reich nicht Angreifer, sondern Angegriffener war hinkt_ nicht nur historisch betrachtet. Das Motiv der Notwehr ist angesichts der vorherigen Vorfälle im Jahr 2015 einfach absurd.
Zur Vorgeschichte: Die Armenier sind eines der ältesten Völker dieser Erde & haben seit Jahrtausenden in der Gegend gelebt, die vom osmanischen Reich im 14. | 15 Jahrhundert okkupiert wurde. Nur mal so am Rande bzgl. Angreifer & Angegriffene….