Realpolitik sähe anders aus

Armenien-Resolution Es erinnert an gymnastische Einlagen, was die Bundesregierung an Gelenkigkeit bei ihren Fallübungen gegenüber der Türkei praktiziert
Ausgabe 36/2016
Regierungssprecher Seibert distanziert sich von der Distanzierung von der Distanzierung
Regierungssprecher Seibert distanziert sich von der Distanzierung von der Distanzierung

Foto: Ipon/Imago

Wie der Kotau der Regierung Merkel vor dem türkischen Autokraten Erdoğan vollzogen wurde, ist in der FAZ wohl richtig beschrieben worden: Man steckt dem Spiegel zu, man wolle sich von der Armenien-Resolution des Bundestags „distanzieren“, und hat damit einen Anlass geschaffen, die Distanzierung als Distanzierung von der Distanzierung auszusprechen. Regierungssprecher Seibert hätte auf den Spiegel gar nicht reagieren müssen, tat es aber unaufgefordert, indem er sagte, die Regierung werde sich nicht distanzieren, und im Übrigen habe die Armenien-Resolution gar keine rechtliche Verbindlichkeit.

Es wäre freilich nicht besser geworden, wenn Seibert geschwiegen hätte. Der Kotau wurde ohnehin schon vollzogen, als Kanzlerin und Außenminister beim Beschluss der Resolution durch Abwesenheit glänzten. Seiberts Spruch zeigt nur, wie viel der Regierung daran liegt, Erdoğan um wirklich jeden Preis zu beruhigen, damit er nicht aus dem Vertrag aussteigt, der ihn verpflichtet, keine Flüchtlinge mehr nach Europa zu lassen. Aber das ist eine schändliche Vorsicht. Wenn es rechtswidrig ist, Verträge zu brechen (pacta sunt servanda), ist es auch rechtswidrig, den möglichen Vertragsbruch in der Form zu billigen, dass man für die Einhaltung des Vertrags einen Preis zahlt. Das Problem liegt aber noch tiefer, denn in diesem Fall ist der Vertrag schon selber schändlich gewesen. Soll man sagen, er sei als deutsche „Realpolitik“ nachvollziehbar? Es ist ja schwer vorstellbar, dass Deutschland noch weitere ein, zwei, drei Millionen Flüchtlinge aufnimmt. Aber wenn man die Frage so stellt, geht alles durcheinander.

Der Vertrag mit der Türkei wurde von der EU abgeschlossen. Derselben EU, deren Staaten sich mehrheitlich weigern, die Flüchtlinge sinnvoll untereinander zu verteilen. Die zweite Tatsache bedingt die erste kausal. Stiege Ankara aus dem Vertrag aus, würde nicht Deutschland, sondern die EU vor der Alternative stehen: entweder die Flüchtlinge mit militärischer Gewalt aufzuhalten oder sich endlich auf einen Verteilungsschlüssel einzulassen. Deutschlands Rolle wäre es, auf die absolute Schändlichkeit der militärischen Option hinzuweisen. Wenn sich innerhalb der EU dann immer noch nichts tut, dann stellt sich die Frage, warum Deutschland bereit ist, Nettozahler der EU zu sein. Das ist dramatisch, aber die Flüchtlingsströme sind es noch mehr, sie kündigen eine Hauptkonstante der näheren Zukunft an. Wer das nicht erkennt, macht keine Realpolitik, sondern lebt in einer Traumwelt.

Es handelt sich also gar nicht um eine deutsche Frage. Aber dennoch hat sie auch einen innenpolitischen Aspekt. Der liegt in der nicht endenden Debatte über die „Obergrenze“. Die Frage, ob es eine geben soll, ist falsch gestellt und ist antieuropäisch – das muss einmal ausgesprochen werden. Falsch gestellt ist sie, weil sie die wahre Alternative verdeckt, ob eine EU mit Verteilungsschlüssel eine „Obergrenze“ braucht; antieuropäisch, weil sie so tut, als ob es Europa gar nicht gäbe, und weil sie Wind in den Segeln aller europäischen Rechtspopulisten ist. Warum scheut sich die Bundesregierung, das laut zu sagen? Sie weicht vor einer außen- und innenpolitischen Konfrontation zurück, die so oder so kommen wird – was offenkundig das Gegenteil von Realpolitik ist. Nebenbei gesagt fällt sie gerade in der Armenienfrage ihrerseits hinter Europa zurück, das sich in der Einschätzung, es handle sich um Völkermord, seit langem einig ist.

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Geschrieben von

Michael Jäger

Redakteur „Politik“ (Freier Mitarbeiter)

Michael Jäger studierte Politikwissenschaft und Germanistik. Er war wissenschaftlicher Tutor im Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin, wo er bei Klaus Holzkamp promovierte. In den 1980er Jahren hatte er Lehraufträge u.a. für poststrukturalistische Philosophie an der Universität Innsbruck inne. Freier Mitarbeiter und Redaktionsmitglied beim Freitag ist er seit dessen Gründung 1990. 1992 wurde er erster Redaktionsleiter der Wochenzeitung und von 2001 bis 2004 Betreuer, Mitherausgeber und Lektor der Edition Freitag. Er beschäftigt sich mit Politik, Ökonomie, Ökologie, schreibt aber auch gern über Musik.

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