Großbritannien: Labour-Chef Keir Starmer will endlich regieren
Wahljahr Die im Oktober oder November zu erwartende Abstimmung dürfte den Konservativen eine krachende Niederlage bescheren. Labour könnte wieder regieren, wie das die Partei für genau 100 Jahren zum ersten Mal tat
Von Haustür zu Haustür: Der Labour-Politiker Peter Mandelson klappert potenzielle Wähler ab
Foto: Ian Berry/Magnum Fotos/Agentur Focus
Ende dieses Jahres wird in Großbritannien ein neues Unterhaus gewählt, im Oktober oder November müsste die Abstimmung stattfinden. Im Moment sind sich alle Demoskopen einig: Die seit 2010 regierenden Konservativen werden krachend verlieren, nach 14 Jahren dürfte Labour aller Voraussicht nach wieder den Premierminister und die Regierung stellen. Seit zwei Jahren sehen alle Umfragen die Partei mit bis zu 20 Prozent Vorsprung vor den Torys. Das Meinungsbild – verstärkt durch das Mehrheitswahlrecht – wird bei einem solchen Abstand für einen Erdrutschsieg sorgen.
Aber noch hat Labour den Sieg nicht in der Tasche, auch wenn ein wichtiges Jubiläum der Partei und ihren Anhängern weiteren Auftrieb gibt: Vor 100 Jahren, Ende Januar 1924, trat die er
rat die erste Labour-Regierung unter dem Premier Ramsay MacDonald an. Sie bestand als Minderheitskabinett, gestützt von nur 191 Labour-Abgeordneten, sodass es lediglich eine Amtszeit von neun Monaten gab. Dennoch erhöhte diese Regierung die Arbeitslosenhilfe und setzte mit ihrem Wohnungsbaugesetz bezahlbare Sozialwohnungen durch. Danach kehrte Labour erst 1929 zurück an die Macht. Jedoch scheiterte die zweite Regierung MacDonald 1931 im Sog der Weltwirtschaftskrise am Streit um den Umgang mit dieser auch sozialpolitisch gravierenden Zäsur, dennoch entstanden bis 1933 mehr als eine halbe Million Sozialwohnungen.Todesstrafe abgeschafftEine wirklich große Zeit kam für Labour kurz nach Ende des Zweiten Weltkriegs, als die Partei mit dem Premier Clement Attlee antrat und das Land in kurzer Zeit nachhaltiger veränderte als jedes Labour-Kabinett zuvor und danach. Mehr als 20 Prozent der Unternehmen der Schwerindustrie, des Bergbaus und des Energiesektors wurden verstaatlicht, der Nationale Gesundheitsdienst (NHS), eine (fast) kostenlose medizinische Versorgung und eine allgemeine Mindestpension für alle eingeführt. Man reformierte Sozialhilfe, Kinderbetreuung und Schulwesen, schuf eine moderne Raum- und Stadtplanung. Bis 1951 gab es nochmals Hunderttausende neuer Sozialwohnungen mit bis dato unerhörter Ausstattung. Schließlich wurde von den Labour-Regierungen der 1960er und 1970er Jahre die Todesstrafe abgeschafft und Frauen das Recht auf gleichen Lohn zugestanden. Den späteren Labour-Kabinetten von Tony Blair und Gordon Brown verdanken die Briten den Mindestlohn, kommunale Selbstverwaltung und regionale Autonomie in Schottland, Wales und Nordirland, aber ebenso ein Fortschreiben der von den Konservativen unter Margaret Thatcher begonnenen Deregulierung. Es hätte nahegelegen, einen drastischen Abbau des Mieterschutzes wieder rückgängig zu machen, nur widersprach das dem neoliberalen Zeitgeist.Bemüht man die Statistik, hat Labour in den letzten 100 Jahren seltener regiert als die Torys. Die Partei kam mit sechs Regierungschefs auf eine Amtszeit von 33 Jahren, die Konservativen mit 14 Premierministern auf 67 Jahre. Dennoch hatte Bestand, was für die Briten von Vorteil war. Selbst die eiserne Margaret Thatcher, die Staatsfirmen gegen heftigen Widerstand privatisierte, wagte es nicht, den Nationalen Gesundheitsdienst oder die Pensionen anzutasten. Erst ihre Nachfolger David Cameron und Boris Johnson begannen mit systematischen Attacken auf den NHS und drehten am Geldhahn, um einen unterfinanzierten Dienst dank endloser Wartezeiten und wegen fehlenden oder permanent überlasteten Personals möglichst unbeliebt zu machen. Mehr als zehn Jahre Austeritätspolitik mit weit brutaleren Sparmaßnahmen als im Rest Europas haben tiefe Spuren in der britischen Ökonomie und Gesellschaft hinterlassen.Seit 2020 nun ist Keir Starmer Parteivorsitzender bei Labour, Jeremy Corbyn, Favorit der Parteilinken, wurde abserviert mit seinem Stab und seinem Programm des radikalen sozialökologischen Umbaus. Starmer hat die Partei wieder „auf Linie gebracht“. Der ehemalige Staatsanwalt wirkt kompetent und geerdet, ohne Begeisterung zu wecken. Als Oppositionsführer und Debattenredner mag er seinen Vorgänger übertreffen, aber zum Volkstribun taugt er nicht. Er hat vor allem deshalb Chancen, Tory-Premier Rishi Sunak zu schlagen, weil der Angriffsflächen zuhauf bietet. Die Reallöhne stagnieren, eine auch offiziell zugestandene Armut behauptet sich, der Wohnungsbestand vieler abgehängter Städte und Gemeinden verfällt. Auf ein Minimum an sozialer Balance wird verzichtet, während zugleich die regionale Disparität zwischen Metropolen wie London sowie dem Speckgürtel im Südosten und einem darbenden Norden wächst. Das privatisierte Transportwesen kracht in allen Fugen, und der Nationale Gesundheitsdienst steckt in seiner Dauerkrise.Dabei wird die Migrations- und Flüchtlingspolitik, bei der Premier Sunak den Kurs ständig verschärft, das große Thema der nächsten Unterhauswahl sein. Zuletzt gelang es ihm sogar, den Obersten Gerichtshof und Teile der Konservativen gegen sich aufzubringen, mit dem Plan, Asylsuchende nach Ruanda abzuschieben, wo sie den Ausgang ihrer Verfahren abwarten sollen. Starmer hat lange versucht, das strittige Thema zu meiden, bis er sich nach langem Zögern zum Jahresende mit Aussagen zur Migration hervorwagte. Unter einer Labour-Regierung werde die Zahl der illegalen Zuwanderer weiter reduziert, ließ er wissen. Zwar werde sich Labour die Ruanda-Option der Torys niemals zu eigen machen, aber die härtere Gangart werde beibehalten. Wohlweislich meiden er und andere Labour-Politiker konkrete Angaben dazu, in welchem Maß die Zahl der Migranten abnehmen soll. Unübersehbar nähert sich Labour in dieser Frage den Konservativen, um all die Wechselwähler zu gewinnen, die eher auf der rechten Seite des politischen Spektrums vermutet werden. Der Parteilinken gefällt das ganz und gar nicht, deren Unbehagen über Starmer für die Labour-Kandidaten überall im Land durchaus ein Problem ist. In Großbritannien wird der Wahlkampf vielfach noch immer altmodisch per Hausbesuch geführt. Die Bewerber müssen Klinken putzen und sich die Hacken ablaufen – ohne zahlreiche freiwillige Helfer in allen Wahlkreisen geht das nicht. Wenn die aus Frust wegbleiben, kann die Partei im Wahlkampf über sich selbst stolpern.In einigen wichtigen Wahlkreisen, in denen Migranten beziehungsweise Muslime stark vertreten sind oder sogar die Mehrheit der Wähler stellen, kommt Keir Starmers Haltung zum Gaza-Krieg ebenso schlecht an wie seine Migrationspolitik. Viele der schon vor langer Zeit Zugewanderten, besonders Migranten aus den Commonwealth-Staaten, haben wenig Verständnis für eine harte Haltung gegenüber Zuwanderern (obwohl die meisten sich klar gegen Illegale aussprechen, die per Boot über den Kanal kommen). Doch auch Fachkräften aus der EU wird das Leben schwer gemacht, sodass viele die Segel streichen. Da eine Labour-Regierung unter Starmer den Brexit nicht revidieren würde, bleibt nur legale Einwanderung aus Commonwealth-Ländern, etwa Indien und Pakistan.Wie 1924 wird Labour auch 2024 eine schwächelnde Wirtschaft mit steigender Arbeitslosigkeit erben. Anders als vor 100 Jahren oder 1945 nach Kriegsende hat die Partei diesmal keinen klaren Plan. Zwar bezeichnete Keir Starmer noch 2020 Clement Attlee als sein großes Vorbild, um damit an die heroische Zeit des Aufbruchs nach 1945 zu erinnern, als Labour gegen alle Widerstände den Wohlfahrtsstaat aufbaute und das Land für immer veränderte. Heute hingegen denkt die Labour-Führung nicht einmal an eine keynesianisch inspirierte Wende hin zu einer konsequenten Politik öffentlicher oder öffentlich subventionierter Investitionen. Sie ignoriert, dass ein Jahrzehnt der Austeritätspolitik seine Spuren hinterließ. Wenigstens hat Starmer anderthalb Millionen Sozialwohnungen versprochen. Ein erster Schritt oder auch nur eine Geste zur Versöhnung mit den zu Unrecht verdrängten „Corbynomics“.
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