Lateinamerika: Die EU versucht, China mit einer Charme-Offensive den Rang abzulaufen

Rivalen Noch scheitert ein Assoziierungsabkommen der EU mit den MERCOSUR-Staaten an Auflagen, für die sich Deutschland stark macht. Greenpeace und Attac verteufeln das Abkommen als „Giftvertrag“. Bis zum Jahresende soll ein Kompromiss gefunden sein
Ausgabe 30/2023
Südamerikas Präsidenten: Luis Arce, Santiago Peña, Mario Abdo Benitez, Alberto Fernandez, Lula da Silva und Lacalle Pou (v. l. n. r.)
Südamerikas Präsidenten: Luis Arce, Santiago Peña, Mario Abdo Benitez, Alberto Fernandez, Lula da Silva und Lacalle Pou (v. l. n. r.)

Foto: Nelson Almeida/AFP via Getty Images

Es sind bereits mehr als zwanzig Jahre, in denen über das Assoziierungsabkommen zwischen der EU und den MERCOSUR-Staaten Argentinien, Brasilien, Paraguay und Uruguay verhandelt wird. Seit 2019 gibt es einen unterschriftsreifen Vertrag, der ratifiziert werden könnte, aber nicht wird. Ende Juni trafen sich die Vertreter der EU und der MERCOSUR-Gruppe in Buenos Aires, einen Monat später fanden sich die EU und die 33 CELAC-Staaten aus Lateinamerika wie der Karibik zum Gipfel in Brüssel ein. Die EU strengte sich an, um Bewegung in die auf Eis liegenden Sondierungen zu bringen. Sie kann damit testen, ob und wie ihre Lateinamerika-Strategie und ihre Global Gateway Initiative anschlagen.

Lateinamerika ist wegen der Rohstoffe und Nahrungsmittel, die Europa braucht, als verlässlicher Partner ohne Neigung zu gefährlichen Erpressungen wichtiger denn je. Der Subkontinent ist überdies ein Absatzmarkt für Industriewaren aus der EU, zumal die Europäer dort eher willkommen sind als die Nordamerikaner und schon heute als größter externer Investor reüssieren. Würde das MERCOSUR-Abkommen ratifiziert, wäre die weltweit größte Freihandelszone mit 780 Millionen Menschen ins Werk gesetzt. Die Dimension hat u. a. damit zu tun, dass die MERCOSUR-Staaten über Assoziierungsabkommen mit anderen Ländern Lateinamerikas verfügen, Bolivien vor einem Beitritt steht und andere wohl folgen werden.

Handelsverträge der EU mit Australien und Neuseeland sind gut und schön, aber die MERCOSUR-Option bringt sie als Global Player ins Geschäft. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen verbreitet denn auch Optimismus, wenn sie andeutet, bis Ende 2023 werde die so lange ausstehende Übereinkunft unterzeichnet sein. Das würde allerdings bedeuten, dass EU-Staaten wie Deutschland ihre Blockade aufgeben, weil ihnen Absprachen zum Umwelt- und Arbeitsschutz nicht weit genug gehen. Diese Position bedient die harsche Kritik von Greenpeace und Attac, die das Abkommen als „Giftvertrag“ verteufeln. Der Grund: Radikale Zollsenkungen für argentinisches Rindfleisch und brasilianische Soja-Produkte würden die umwelt- und klimaschädliche Massenproduktion dieser Waren in Lateinamerika befeuern, dies auch dank einer massiv erleichterten Einfuhr von Pestiziden aus EU-Produktion. Die Agrarwende in Europa und Lateinamerika wäre dadurch zumindest behindert.

Lula fühlt sich bevormundet

Also versucht EU-Handelskommissar Valdis Dombrovskis das Vertragswerk mithilfe eines Zusatzabkommens zu retten. Demnach sollen die MERCOSUR-Staaten auf einige Umweltstandards und eine beschleunigte Gangart beim Klimaschutz verpflichtet werden. Brasiliens Präsident Lula fühlt sich davon unangemessen bevormundet. Für ihn hat der Klimaschutz, besonders der Erhalt des Regenwalds am Amazonas, absolute Priorität. Seine Regierung will das Abholzen gigantischer Baumbestände bis 2030 beenden. In den wenigen Monaten seit ihrem Amtsantritt im Januar wurde der Einschlag, verglichen mit dem Vorjahr, bereits um 31 Prozent reduziert – ein vielversprechender Anfang, aber die eigentliche Arbeit, das Wiederaufforsten eines ganzen Biotops, muss noch beginnen. Dombrovskis’ Zusatzdeal dürfte Lula auch deshalb nicht schmecken, weil er in den nördlichen Provinzen Brasiliens Rücksicht auf eine verarmte Bevölkerung nehmen muss. Landlose Bauern roden den Regenwald nicht, um Profite zu machen, sondern um zu überleben. Für diese Menschen, für die regionalen Armenhäuser des Landes, müssen ebenso nachhaltige Lösungen gefunden werden wie für die indigenen Völker und den Regenwald insgesamt.

Druck aus Europa ist da wenig hilfreich und kontraproduktiv, wenn der Rivale China in den rohstoffreichen Ländern überaus rührig ist. Während die Ratifizierung des MERCOSUR-Abkommens auf sich warten lässt, hat China der EU den Rang als wichtigster Handelspartner der Staaten Lateinamerikas bereits abgelaufen. Im Zweifelsfall bieten die Chinesen höchst günstige Konditionen, auch durch begehrte Auslandsinvestitionen. Beim Gipfeltreffen in Brüssel haben die Europäer ungewohnt clever auf diese Herausforderung reagiert. Dies geschah mit der deutlich erklärten Absicht, bei der Gewinnung von Rohstoffen, z. B. Lithium in Chile, künftig besser zu kooperieren und mehr Verarbeitung, mithin Wertschöpfung, in diesen Ländern zu lassen. Außerdem will man den lateinamerikanischen Partnern bei der Digitalisierung (Ausbau von Netzinfrastruktur), der Energiewende (Modernisierung von Hochspannungsleitungen) und der Verkehrswende (Elektrobusse im öffentlichen Nahverkehr) helfen. Dafür soll es in den nächsten fünf Jahren 45 Milliarden Euro geben. Mit Argentinien und Uruguay wurde vereinbart, bei der Entwicklung erneuerbarer Energien – speziell der Herstellung grünen Wasserstoffs – zu kooperieren.

Für Brasilien indes sollte sich Brüssel noch etwas einfallen lassen. In dem Riesenland fehlt es bis heute an einem modernen Eisenbahnnetz, da könnte die EU Rat, Tat und Geld springen lassen – und punkten. Passiert das nicht, tun es die Chinesen. Falls die Charmeoffensive scheitert, hat die EU-Kommission noch einen Trumpf im Ärmel. Sie braucht nur den Freihandelsvertrag aus dem Assoziierungsabkommen herauszulösen. Und über Handelspolitik entscheidet die EU-Zentrale allein. Auf Bedenken einiger Mitgliedsländer braucht sie keine Rücksicht zu nehmen.

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