Indien: Der Westen umwirbt die Regionalmacht, um sich von China absetzen zu können
Partnertausch Von der Regierung in Delhi wird nicht verlangt, sich hinsichtlich der Menschenrechte besser als die in Peking zu verhalten, sondern nur, dass Indien in die Koalition gegen China einsteigt
Washington D.C., Juni 2023. Narendra Modis Einreiseverbot in die USA hatte 2014 noch die Obama-Regierung aufgehoben.
Foto: Sarah Silbiger/upi/Imago Images
Während des Besuchs von Premierminister Narendra Modi Ende Juni in Washington von einer Fernsehmoderatorin gefragt, wie die USA mit „illiberalen Demokratien“ umgehen sollten, antwortete Ex-Präsident Barack Obama: Wenn die Rechte ethnischer Minderheiten nicht geschützt würden, könnte Indien „irgendwann auseinandergerissen“ werden.
Was man von Indien unter Modi weiß, der das Land seit 2014 regiert, ist in der Tat nicht einladend. Der Oppositionsführer Rahul Gandhi wurde zu zwei Jahren Haft verurteilt und verlor sein Mandat im indischen Parlament, weil er Modi beleidigt habe. Seit 2014 wurden häufig harsche Urteile gegen Oppositionspolitiker gefällt. Zwar gab es auch welche gegen die Exekutivgewalt und für den Erhalt von
Erhalt von Grundrechten der Bürger, doch wurden sie so oft von höheren Instanzen wieder kassiert, dass sich die Gerichte mit Fällen solcher Thematik kaum noch befassen mochten. Natürlich hängt das damit zusammen, dass die Regierung auf die Ernennung höherer Richter massiv Einfluss nimmt.Antimuslimische PogromeKaschmir als FreiluftgefängnisDas Oberste Gericht hat Gesetze der hindunationalistischen Regierungspartei, wie das zum National Register of Citizens, passieren lassen, die darauf abzielen, Millionen Muslime und andere Marginalisierte offiziell staatenlos zu machen, besonders in der Grenzregion zu Bangladesch. Ihnen drohe die Internierung in Lagern, schreibt Amadeus Marzai in den Blättern für deutsche und internationale Politik. Und weiter: „Der einzig mehrheitlich muslimische Bundesstaat Kaschmir wurde unter Kontrolle der Bundesregierung gestellt und ähnelt immer mehr einem Freiluftgefängnis.“ Antimuslimischen Pogromen wie dem im Februar 2020 trete diese Regierung nicht entgegen, ja, sie würden „indirekt goutiert und teilweise sogar institutionalisiert“.Indische Politiker streiten das alles ab, wie chinesische entsprechende Vorwürfe hinsichtlich der Unterdrückung der muslimischen Uiguren in der Region Xinjiang. Auffällig ist allerdings die Ungleichbehandlung von Seiten des Westens. Die Regierung der USA schmiedet unter Joe Biden eine internationale Koalition gegen China, zu der nun ausgerechnet auch Indien gehören soll. Gibt es in Indien Missstände? Darüber sprach Biden, als hätten sie weder dort noch in den USA eine Chance: „Gleichheit vor dem Gesetz, Meinungsfreiheit, religiöser Pluralismus und Vielfalt unserer Bevölkerungen – diese Grundprinzipien haben fortbestanden und sich entwickelt, selbst wenn sie in der Geschichte unserer beiden Nationen vor Herausforderungen standen.“ Dabei weiß er doch von Modis Einreiseverbot für die USA vor dessen Amtsantritt als indischer Regierungschef. Es war wegen dessen Rolle bei antimuslimischen Unruhen verhängt worden. Und dass es in Indien immer weniger Meinungs- und Pressefreiheit gibt, ist auch ziemlich bekannt.Die bedrohte Dominanz der USAMan muss sich diese Heuchelei vor Augen führen, weil sie klar zeigt, worum es in der Auseinandersetzung des Westens mit China geht und worum nicht. Von Indien wird nicht verlangt, sich hinsichtlich der Menschenrechte besser als China zu verhalten, sondern nur, dass es in die Koalition gegen China einsteigt. Worum geht es also? Darum, dass die ökonomische Dominanz der USA auf den Weltmärkten durch China bedroht ist. Dagegen kämpft Washington mit außerökonomischen Mitteln, vielleicht gar eines Tages mit militärischen. Fakt ist, dass eine militärische Aufrüstung Indiens gegen China durch den Westen im Gange ist. Um Flugzeugtriebwerke, Kampfdrohnen und eine „Road Map“ für Rüstungs- und Technologiezusammenarbeit ging es bei Modis jüngstem Besuch in den Vereinigten Staaten.An dieser Aufrüstung ist auch die deutsche Regierung beteiligt. Mitte Juni reiste Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) nach Singapur, Indonesien und Indien, wo ein milliardenschweres U-Boot-Geschäft mit der indischen Marine auf der Agenda stand. Es gelte, so Pistorius, „Partnernationen mit ihrem legitimen Anspruch auf Selbstverteidigung“ zu unterstützen. Er begründete das „Umdenken in unserer Waffenexportpolitik“ damit, dass auch im Indopazifik die internationale Ordnung zu verteidigen sei, die angeblich durch einen bevorstehenden Überfall Chinas auf Taiwan bedroht sei. Das renommierte britische International Institute for Strategic Studies (IISS) veröffentlichte freilich Anfang Juni einen Bericht, in dem es heißt, es gebe dafür keine „belastbaren Geheimdienstinformationen“, vielmehr beruhten entsprechende Einschätzungen auf nichts als der Feststellung, dass Chinas Militärkraft für eine solche Operation bald ausreichen würde. Es ist, nebenbei gesagt, bemerkenswert und auch erschreckend, wie viele Meldungen solcher Art sich allein im vergangenen Monat Juni gehäuft haben.Fünftgrößte Volkswirtschaft der WeltChina droht die USA ökonomisch zu übertrumpfen. Indien, obgleich eine aufsteigende Macht, die wieder einen Führungsanspruch in der nichtwestlichen Welt erhebt, ist davon noch weit entfernt. Die indischen Wachstumsraten lagen in den vergangenen 30 Jahren wenig unter den chinesischen, ausgehend aber von einem niedrigeren Niveau. Modis Regierung hat zum Beispiel das System der Zölle und Abgaben zwischen den indischen Bundesstaaten beseitigt und Indien so zu einem einheitlichen Markt gemacht. Insgesamt bleibt das Land ein armer Agrarstaat, auch wenn in den 15 Jahren vor Corona 415 Millionen Menschen der Armut entkommen sind. Im September 2022 verdrängte Indien Großbritannien von Platz fünf der größten Volkswirtschaften weltweit. Seine relative ökonomische Stärke gründet vor allem auf dem Aufstieg der Informations- und Kommunikationstechnologie. Zugleich werden Dienstleistungen aus westlichen Staaten in großem Umfang dorthin ausgelagert, wo sie von qualifizierten Arbeitskräften für vergleichsweise wenig Geld erbracht werden. Diese Gruppe rekrutiert zwar weniger als ein Prozent der Gesamtbevölkerung, doch sind das in absoluten Zahlen immerhin 4,5 Millionen Menschen, sodass sich Indien den Ruf verdient hat, „das Büro der Weltwirtschaft“ zu sein.Dennoch kann Indien mit China nicht gleichziehen: Der Bildungsgrad ist niedriger (die Alphabetisierungsrate lag 2021 bei 77 Prozent), die Ausgaben für Forschung und Entwicklung sind gering, die Korruption konnte verringert, aber nicht beseitigt werden, und der Anteil des industriellen Sektors am Bruttoinlandsprodukt stagniert. Für ausländische Investoren ist die Attraktivität des indischen Marktes nach wie vor geringer als die des chinesischen, weil auf letzterem das Einkommensniveau und damit die Kaufkraft viel höher ist. Trotzdem, wenn der Westen sich von der wirtschaftlichen Verflechtung mit China wenigstens teilweise lösen will, muss sich ihm Indien als Alternative aufdrängen. Was bedeutet das politisch? Es bedeutet, dass die USA sich um Indien – gelänge es ihnen, das Land auf ihre Seite zu ziehen – für die absehbar nächste Zeit keine Sorgen zu machen brauchten. Indien steht erst einmal nicht im Begriff, die USA ökonomisch zu überholen. Sollte sich das in Zukunft ändern, würden im Westen die indischen Menschenrechtsverletzungen vermutlich zum beherrschenden Thema werden.Die Ukraine hier, Pakistan dort?Nicht nur, dass Indien anders als China behandelt wird, spricht Bände, sondern auch der Vergleich mit Russland. Das Vorgehen der indischen Regierung gegen muslimische Minderheiten hängt damit zusammen, dass sie eine Ideologie der Renaissance der großen indischen Nation in die Tat umsetzen will. Diese Nation wird als hinduistisch vorgestellt, die Zeiten muslimischer Herrschaft – das Sultanat von Delhi zwischen dem 13. und 16., das Mogulreich von da bis zum 19. Jahrhundert – erscheinen als uneigentliche Verirrung. Mit der Ideologie des russischen Präsidenten Wladimir Putin und seiner Stichwortgeber ist das insofern vergleichbar, als die Geschichte dafür herhalten muss, ein nationales Selbstbild zu „beweisen“. Geschichte wird so instrumentalisiert und eben ideologisiert. Gerade ihre zentrale Eigenschaft, nämlich dass sie radikale Wenden bereithält, wird unsichtbar gemacht.Man muss Geschichte von der jeweiligen Gegenwart her denken, nicht von der Vergangenheit. Wie Putin sie sieht, gibt sie ihm ein Recht, in die Ukraine einzumarschieren, weil er diese zur „russischen Welt“ zählt. Solche Perspektiven sind immer kriegsgefährlich, auch im indischen Fall, und der Westen weiß das. Liegt es nicht auf der Hand, dass Modis Partei, wenn sie einen hindunationalistischen Ansatz zu Ende denkt, die Existenz des Staates Pakistan widernatürlich erscheinen muss? Es fällt immer schwerer, die Politik der USA – und auch der deutschen Regierung – als rational zu begreifen.