Thatchers Turm der Toten

Grenfell-Hochhaus Die Brandkatastrophe in England gemahnt an die schrecklichen Versäumnisse des Thatcherismus. Es braucht mehr als Erinnerungskultur, damit sie sich nicht wiederholen
Ausgabe 25/2017
Erschreckte Idylle
Erschreckte Idylle

Foto: Daniel Leal-Olivas/AFP/Getty Images

Eines der eindrücklichsten Pressefotos des brennenden Grenfell Tower, in dem bis Montag mindestens 58 Menschen starben, stammt von Daniel Leal-Olivas: Ein Mann und eine Frau sind auf ihm zu sehen, beide mit Fahrrädern, von denen sie nicht ganz abgestiegen sind. Es scheint, als hätten sie gerade angehalten, weil sie etwas Ungewöhnliches in der Ferne bemerkt haben. Die Armhaltung der Frau ist ein wenig rätselhaft. Legt sie geschockt die Hände über den Mund? Fotografiert sie? Man sieht sie nur von hinten, also gibt es hier keine sichere Antwort. Doch man bekommt das Gefühl, mit beider Augen zu sehen, was sich da vor ihnen abspielt. Am Horizont der rauchende Turm, dessen Schwarz sich gegen kleine, typisch englische Ziegelbauten bedrohlich abzeichnet. Ein hortus conclusus, eine erschreckte Idylle, dieses Ensemble.

Das Foto erinnert an ein anderes. Es ist am 11. September 2001 in New York aufgenommen: Am East River, Manhattan zugewandt, sitzen junge Leute. Ein rotes Fahrrad lehnt an einem Mäuerchen. Im Hintergrund eine Rauchsäule, die Türme des WTC scheinen bereits eingestürzt. Folgt man dem britischen Regisseur Adam Curtis und seinem Filmessay von 2016, HyperNormalisation, so ist 9/11 eine direkte Konsequenz falscher Nahost-Politik Kissingers, die 1975 unter Umgehung Syriens mit einem bilateralen Abkommen zwischen Israel und Ägypten begann und die „menschliche Atombombe“, den Selbstmordattentäter, erst auf den Plan rief.

Der Grenfell Tower wurde 1974 gebaut. Margaret Thatcher war von 1975 bis 1990 Parteivorsitzende der Konservativen Großbritanniens, ab 1979 Premierministerin. Dass es „die Gesellschaft“ nicht gebe, ist einer ihrer berüchtigtsten Sätze. Damit wollte sie sagen, dass jeder und jede letztlich für sich selbst verantwortlich sei, Schmied des eigenen Glücks, das gegen andere zu erkämpfen sei. Sie folgte darin Friedrich Hayek, der in seinem Weg zur Knechtschaft von 1944 davon ausging, dass staatliche Planung das Individuum unterdrücke und letztlich zum Totalitarismus führe. Thatcherismus ist vor allem eins: Marktderegulierung, Unterdrückung von Gewerkschaften und das Reduzieren von Sozialpolitik auf ein Minimum. Viele sehen die miserablen Feuerschutzvorkehrungen im Hochhaus, die wohl zur Katastrophe – bis jetzt ist die Ursache noch ungeklärt – geführt haben, als direkte Konsequenz der verantwortungslosen Politik und Profitgier, die vor 40 Jahren ihren Anfang nahmen.

Eingebetteter MedieninhaltJetzt hat der Journalist Paul Lewis auf Twitter vorgeschlagen, die Ruine so zu belassen, wie sie ist, als Klassenkampf-Denkmal und Mahnmal gegen Hybris, Profit und Dummheit. Das ist in einem Moment, wo mit dem Wiedererstarken von Labour eine soziale Politik jenseits des Symbolischen greifbar wird, der falsche Weg. Erst neoliberale Politik wie die Thatchers nämlich machte Symbolpolitik als Schwundstufe des Politischen zum fast einzigen gesellschaftlichen Kampfplatz. Zu einem hortus conclusus. Dass sich das in Großbritannien bald ändert, diese Hoffnung ist jetzt auch mit den Toten von Kensington verbunden. Keine Ruine, kein Symbol lässt sich bewohnen. Orte zu schaffen, in denen es sich leben lässt und die sicher sind: Das wäre die politische Konsequenz des Feuers im Grenfell Tower. Und nicht Denkmalpolitik.

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Geschrieben von

Mladen Gladić

Redakteur Kultur und Alltag

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