Früher hätten wir den Praktikanten in eine zugige Fußgängerzone geschickt, damit er Passanten, die eigentlich gar keine Zeit haben (sind ja zum Shoppen dort), Fragen über Gott und die Welt stellt. Über Gott und Deutschland eher nicht. Wären wir eine Radiostation, wäre dabei eine „Vox Pop“ rausgekommen, kurz für vox populi, Volkes Stimme. Der Praktikant hat frei (ist vermutlich shoppen), Radio machen wir nicht, und außerdem gibt’s ja Twitter. Die haben eine Funktion, die „Umfrage“ heißt. Man kann eine Frage tweeten und mindestens zwei, maximal vier Antwortmöglichkeiten geben. Geht wetterunabhängig vom Bett aus, aus der Redaktion, eigentlich geht das überall, wo’s Internet gibt. Auch in der Parteizentrale der Berliner AfD.
„Gehört der Islam zu Deutschland?“, fragte die neulich, eine Steilvorlage des neuen Heimatministers aufnehmend. „Liebe Gutmenschen und Zwangsgebührenzahler, habt ihr Lust, bei einer AfD-Umfrage mitzumachen?“, konterte extra 3, das Satiremagazin des NDR, per Retweet. Es mag daran gelegen haben, dass das Ergebnis der Umfrage, 17 Stunden vor ihrem Ende, mit 83 Prozent Befürwortung – 16.000 von etwa 20.000 Teilnehmern – klar gegen die Erwartung der Partei sprach, wie die später auch zugab. Vielleicht war auch das der Grund, dass der Tweet samt Umfrage und für alle sichtbarem Zwischenstand dann bald verschwunden war.
Aber das Netz ist ein Elefant und vergisst nicht. Es gibt Screenshots. Weshalb es auch prompt Spott gab, etwa vom Berliner Grünen-Vorsitzenden Werner Graf. Der tweetete, der Fall zeige, „dass diejenigen, die immer schreien ‚Wir sind das Volk‘, sich wegducken, wenn sie merken, dass sie gar nicht das Volk repräsentieren“. Also lieber beim Tweed bleiben und die Tweets zu Haupt- und Staatsaktionen, Gott und Deutschland anderen überlassen, liebe Berliner AfD?
Doch natürlich hat hier weder das „Volk“ abgestimmt, noch sind Umfragen in Social-Media-Bubbles repräsentativ. Auf Twitter lesen die einen Tweet, die seinem Absender folgen. Wird er geteilt, so lesen ihn auch alle, die dem folgen, der ihn geteilt hat. Und so weiter. Ist ein bisschen wie die Telefonlawine bei den Drei ???. Dass man so eine Menge User erreichen kann: klar. Bei etwa 5,3 Millionen Nutzern in Deutschland und circa 330 Millionen weltweit sind die 20.000, die sich ernsthaft (und weniger ernsthaft) auf die AfD-Frage eingelassen haben, aber eine eher mickrige Zahl.
Doch eigentlich geht’s bei Aktionen wie derjenigen der Berliner AfD gar nicht darum, repräsentative Ergebnisse zu erzielen. Es geht um die Rhetorik der Umfrage. Bei aller Marginalität, die die Antwort auf die Frage selbst dann noch besessen hätte, wäre sie nicht von Leuten gekapert worden, die ganz anderes im Sinn hatten als die Urheber der Umfrage: Die krude Idee, eine Religion, der 5,5 Prozent der Menschen hier angehören, sei kein Teil dieses Landes, wäre als Mehrheitsmeinung präsentierbar geworden. Denn Mehrheiten sind relativ. Was zeigt der Fall also wirklich? Das hier: Umfragen gehören zu Deutschland. Ihre Ergebnisse werden ernst genommen, selbst wenn sie nichts oder wenig aussagen. Schon gar nicht über die „Stimme des Volkes“. Oder über Gott. Das haben wir uns zu Herzen genommen und diese Erkenntnis zur Disposition gestellt. Auf Twitter natürlich. Am Montag meinten 63 Prozent derer, die sich an unserer Umfrage beteiligt haben, dass Umfragen zu Deutschland gehören. Mehrheit. Twitter ist gar nicht mal so blöd. Mladen Gladić
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