Was er hörte

Literatur In „Neulich in Amerika“ erzählt Eliot Weinberger Geschichte – und wird zum Chronisten der Gegenwart
Ausgabe 35/2020
„Neulich in Amerika“ ist die Chronik eines angekündigten Massenmords
„Neulich in Amerika“ ist die Chronik eines angekündigten Massenmords

Foto: Timothy A. Clary/AFP

Ein „episches Gedicht“, schrieb Maurice Bowra einmal, sei „ eine Erzählung von einiger Länge und handelt von Ereignissen, die eine gewisse Größe und Bedeutung haben“. Zu diesen Ereignissen, so der Oxford-Philologe, zähle „insbesondere der Krieg“. Als „Mini-Epos über den Irak-Krieg“ bezeichnete Eliot Weinberger einen Text, den er 2005 der London Review of Books zur Veröffentlichung anbot. Eigentlich wollte die etwas ganz anderes von dem 1949 in New York geborenen Essayisten und Dichter, der sich als Übersetzer der Werke des mexikanischen Literaturnobelpreisträgers Octavio Paz einen Namen gemacht hatte. Gut, dass Weinberger ablehnte, Romane von Javier Marías zu besprechen: „What I Heard About Iraq“ wurde einer der meistgelesenen Artikel der LRB. Der Text, der jetzt auf Deutsch im Band Neulich in Amerika erschienen ist und hier über 50 Seiten einnimmt, wurde als Hörfassung für das Radio bearbeitet und als Bühnenstück aufgeführt. Im September 2005 kam es zu einer szenischen Lesung in Berlin, als „worldwide reading“ wurde Was ich hörte vom Irak in Sydney, New York, Luxemburg, Indien und anderswo gelesen.

Diese Blumenlese von Zitaten 1992 – 2005 eignet sich bestens zum Vortrag. Das liegt zum einen daran, dass Was ich hörte vom Irak aus gut 250 Episoden besteht, was an eine Litanei denken lässt. Der Eindruck verstärkt sich noch durch die Formelhaftigkeit, mit der der Text abgefasst ist. Meist zu Beginn der Abschnitte wiederholt sich die titelgebende Phrase „Was ich hörte“: „Ich hörte den Vizepräsidenten sagen: ‚Einfach gesagt besteht kein Zweifel, daß Saddam Hussein jetzt Massenvernichtungsmittel hat.‘ “ Oder: „Ich hörte Donald Rumsfeld sagen: ‚Manche behaupten, die nukleare Bedrohung durch den Irak sei nicht aktuell. Ich wäre mir da nicht so sicher.‘ “ Oder: „Ich hörte, daß es in dieser Stadt der 150 Moscheen keine Rufe zum Gebet mehr gibt.“ Schließlich: „Ich hörte den Präsidenten sagen: ,Eine Zeitlang marschierten wir in den Krieg. Jetzt marschieren wir zum Frieden.‘ “ Und: „Ich hörte, das amerikanische Militär habe zur Verwendung im kommenden Jahr 1.500.000.000 Kugeln gekauft. Das sind 58 Kugeln für jeden Erwachsenen und jedes Kind im Irak.“

Gerade die Formelhaftigkeit dieser Texte – in einem anderen Prosagedicht aus Neulich in Amerika ist es der Zusatz „ist Republikaner“, „ist wahrscheinlich Republikaner“ et cetera als epische Formel – macht sie tatsächlich zu Mini-Epen. Andere Epen aber sind das, als sie der Historiker des Heldengedichts im Blick hatte: Das epische Gedicht, schrieb Maurice Bowra, „bereitet eine besondere Freude, weil seine Ereignisse und Personen unseren Glauben an den Wert menschlicher Errungenschaften und an die Göttlichkeit und den Edelmut des Menschen stärken“.

Am besten laut lesen

Was Weinberger dem Leser als Florilegium aus Zeitungslektüre und Medienkonsum virtuos darbietet, sind durchweg Blumen des Bösen. Auswüchse moralischer Verkommenheit, politischer Skrupellosigkeit. „Was ich hörte vom Irak“ ist die Chronik eines angekündigten Massenmords.

Denn ein Chronist, das ist Weinberger, kein Historiker: „Der Chronist ist der Geschichts-Erzähler. (...) Der Historiker (...) kann sich unter keinen Umständen damit begnügen, (...) Musterstücke des Weltlaufs herzuzeigen. Genau das aber tut der Chronist“, schrieb Walter Benjamin über Johann Peter Hebel. Er hätte es über Weinberger schreiben können. Was dieser „herzeigt“ – in diesem Band ist es Material aus drei Amtszeiten: zweimal George W. Bush und einmal Donald Trump –, schockiert, zieht in seinen Bann, besticht und schreckt ab schon durch seine Monotonie des Grotesken. Richtig gelesen, am besten laut oder zumindest am Stück, wird hier die amerikanische Misere augenscheinlich. Dabei ist es der Herausgeberin Beatrice Faßbender hoch anzurechnen, dass sie durch die Zusammenstellung von Texten aus der Ära Bush und solchen, die bis in die Corona-Politik Trumps reichen, den 45. US-Präsidenten weniger als Anomalie zeigt, sondern als Exemplar: als mustergültig für einen Weltenlauf, der nichts Gutes verspricht.

Neulich in Amerika Eliot Weinberger Beatrice Faßbender/Eike Schönfeld/Peter Torberg (Übers.), Berenberg 2020, 272 S., 16 €

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Geschrieben von

Mladen Gladić

Redakteur Kultur und Alltag

Mladen Gladić

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