Deutschland kaputt

Renten, Mieten & Moral Warum privatisiert Deutschland die Lebensgrundlagen, nicht aber die religösen Ansichten?

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Es konnte losgehen
Es konnte losgehen

Foto: Alexander Heimann/Getty Images

Deutschland hat sich abgeschafft – ganz ohne sich an das Drehbuch Thilo Sarrazins oder seiner geistigen Brüder mit Labradorkrawatten zu halten. Es hat sich seines Existenzgrundes entledigt – ganz ohne das Zutun der RAF, des Islams oder des Karnevals. Deutschland hat seine Zukunft privatisiert.

Die Zerstörung unserer Werte, unseres gesellschaftlichen Zusammenhaltes und unserer Zukunftsaussichten ist längst vollzogen. "Unser", das ist die vielbeschworene nivellierte Mittelstandsgesellschaft, die durchschnittlichen Einkommen. Die Familien aus Facharbeitern, Sachbearbeitern, Angestellten. Die ohne Altersvorsorge und in naher Zukunft auch ohne Wohnung sein werden.

1998: Lafo geht, Maschi kommt

Oskar Lafontaine ist nun einmal der unsympathische Knochen, der er ist – aber er ist der einzige, der es noch hätte verhindern können. Kurz vor seinem Abgang wollte er mit einem Gesetzesentwurf eine Selbstverständlichkeit einführen: Versicherungsunternehmen sollte die Möglichkeit zur praktisch unbegrenzten steuerlichen Absetzbarkeit von Schadensaufwendungen genommen werden. Gerd war dagegen, Lafo ging. Ab diesem Moment war klar: Im Kabinett wird die Finanzindustrie, allen voran Rummelplatzfiguren wie Carsten Maschmeyer, mit am Tisch sitzen.

Konsequent ging die Bundesregierung daran, die Altersvorsorge zu privatisieren und ein Mordsgeschäft für Banken und Versicherungen aufzubauen. Unterstützt von zahlreichen Mietmäulern aus der sogenannten Wirtschaftswissenschaft wurden Konzepte mit nach Hautkrankheiten klingenden Namen wie "Riester" und "Rürup" erdacht, die vor allem durch üppige Provisionen, Gebühren und vertragliche Winkelzüge ihren Schöpfern dienen sollten. Ewiges Wachstum am Aktienmarkt, über 40 und 50 Jahre hinaus, sollten eine sichere Altersvorsorge garantieren. Besitzer einer T-Aktie hätten eigentlich spätestens hier aufwachen sollen – aber nichts geschah. Mit einem starken Riesterausschlag und juckendem Rürup am Steiß wachten die privat altersvorsorgenden, braven Mittelstandsbürger spätestens zur Finanzkrise zehn Jahre später auf.

2008: Raus den Aktien, rein in den Immobilienmarkt

Es stellte sich heraus: Der Aktienmarkt hat zwei Richtungen – und von nun an ging es abwärts. Man erinnerte sich, wie Uropa Heinz die Inflation von 1923 überlebt hatte: Er musste Uroma und zwölf Kinder nicht verhungern lassen, weil er Ururopa Kurts Mehrfamilienhaus in [hier bitte deutsche Großstadt einsetzen] geerbt hatte. Uropa Heinz konnte seine Wohnungen nach der Inflation wieder gegen halbwegs harte Rentenmark vermieten. Wie bitte, Rentenmark? Richtig. Die Grundlage der deutschen Währung von 1923 bis – naja, so ca. – 1933 bildeten die staatlich garantierten Renten der deutschen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Gar nicht mal so schlecht, so ein staatliches Rentenvermögen für schlechte Zeiten zu haben, oder?

Wie dem auch sei. Ab 2008 löste Durchschnittsriesterer Klaus mit herben Verlusten seinen Vertrag auf und Gabi zerkloppte erheblich Federn lassend das Rürupsparschwein. Die Banken bzw. Versicherer, bei denen beide ihre Verträge abgeschlossen hatten, hatten ihren gesamten Reibach bereits bei Vertragsabschluss eingestrichen und freuten sich nun auf neue Kunden für ihre Immobilienfonds und Hypotheken. Diese wurden mit der freigewordenen Restkohle für neue Schandtaten gewaltig aufgepumpt, gleichzeitig wurden Einfamilienhäuser mit ebenso architektonisch wie finanziell fragwürdiger Konstruktion in die Gegend geballert, als gäbe es zu viele Wald- und Wiesenflächen. Die immense Nachfrage trieb Land- und Immobilienpreise raketenartig nach oben, die Mieten gingen selbstverständlich mit und schnell wurde das Wohnen unbezahlbar. Maschi rasierte sich vor Freude den Pornobalken ab und heiratete Veronica Ferres.

2018: Mieten unbezahlbar, Altersvorsorge im Arsch - der Flüchtling ist schuld!

1.200 Euro Miete für 60 m² sind in Köln, München und Hamburg günstig, die private Altersvorsorge ist völlig diskrediert. Millionen Deutsche wissen, dass sie nach einem Arbeitsleben voller Zumutung und Niedriglöhnen wahrscheinlich in genau dem Ghetto leben, über dessen Bewohner sie sich heute noch bei RTL herablassend amüsieren. Wenn sie nicht gleich in den zu Heizzwecken abgeholzten Stadtpark ziehen müssen. Die Zelt- und Schlafsackindustrie hat hier schon Traumrenditen im Blick. Zeltriestern jetzt – fragen Sie mal bei Ihrer Bank nach.

Und was macht die Politik? Die feuert Ablenkungssalve um Ablenkungssalve ab. Oberkanonier Horst sieht die Bedrohung über das Mittelmeer kommen, sofern sie nicht wunschgemäß ertrinkt. Dabei haben er und Social-Söder immer fest die christlichen Abendlandwerte im Blick. Könnten diese Abendlandwerte nicht auch eine sichere Lebensplanung in eigener Wohnung oberhalb der Armutsgrenze sein? Wie wäre es denn, wenn man statt der Lebensgrundlagen mal die religiösen Ansicht privatisieren würde?

Nein. Stattdessen wird – Hass und Gewalt säend – vom eigenen Versagen abgelenkt. Seit 20 Jahren gibt es in Deutschland für den normalen Arbeitnehmer keine Perspektive auf einen Lebensstandard oberhalb der Grundsicherungslinie und damit Armutsgrenze mehr. Dort hin, wo der durchschnittliche Arbeitsnehmer sein Leben lang hinarbeitet. Der Mindestlohn, eine weitere Nebelkerze, reicht weder zum Leben noch für die Altersvorsorge aus – Andrea Nahles macht da als Gerds schwierige Stieftochter einen Bombenjob. Die jetzt ankommenden Flüchtlinge – junge, arbeitsfähige Männer – könnten jeden "demografischen Faktor" wieder ausgleichen den man drohend ins Feld geführt hat. Aber das sind ja Moslems. Bah.

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