Sommerbilanz 2023: Doppelt so viele Hitzetote wie Verkehrstote
Fazit 2023 soll der „bisher schlimmste Klimakrisen-Sommer“ gewesen sein, heißt es in der „Zeit“. Stimmt das? Wir zeigen, in welchen Bereichen die letzten Monate wirklich extrem waren – und wie unser aller Leben dadurch unberechenbarer wird
Haben wir 2023 den schlimmsten Klimakrisen-Sommer aller Zeiten erlebt?
Foto: Sebastian Bozon/ Getty Images
Rekordtemperaturen, Hitzewellen, Dürren, Waldbrände, Flutkatastrophen – dieser Sommer war extrem. Zum Schluss wollte er überhaupt nicht mehr aufhören: Noch am 2. Oktober wurden in Baden-Württemberg und Nordrhein-Westfalen Temperaturen von fast 30 Grad Celsius gemessen. In der Sprache der Meteorologen sind Tage mit Werten zwischen 25 und 30 Grad „Sommertage“. Steigt die Temperatur darüber, handelt es sich um „heiße Tage“, welche „so spät im Jahr sehr ungewöhnlich sind“, wie die Meteorologin Jacqueline Kernn vom Deutschen Wetterdienst DWD erklärt.
Begonnen hatte der Sommer mit einem Extremmonat: Nach Erhebung des europäischen Erdüberwachungsdienstes Copernicus, lagen die Temperaturen im Juni
#228;ischen Erdüberwachungsdienstes Copernicus, lagen die Temperaturen im Juni weltweit um 0,53 Grad Celsius über dem Durchschnittswert aus den Jahren 1991 bis 2000. Damit war der Juni 2023 insgesamt 1,46 Grad wärmer als ein durchschnittlicher Juni vor Beginn der Industrialisierung. Im Durchschnitt wohlgemerkt, was dann so aussieht: In Bangladesch begann eine Hitzewelle mit Temperaturen von über 40 Grad, es wurde die längste Hitzewelle des Landes seit etwa einem halben Jahrhundert. In Indien kletterte das Thermometer gar auf 45 Grad, die Behörden registrierte 96 Todesfälle in den nördlichen Bundesstaaten. Peking erlebte am 22. Juni mit 41,1 Grad einen neuen Rekord, in Mexiko stiegen die Temperaturen sogar auf 49 Grad.Getoppt wurden diese Werte vom Juli 2023 – dem heißesten Monat, der bislang je auf der Erde gemessen wurde: Diesmal war auch Europa von einer Hitzewelle betroffen, die Behörden registrierten am 24. Juli auf Sardinien 48 Grad – die höchste je im Juli in Europa gemessene Temperatur. In Kalifornien kletterte das Thermometer sogar auf 51 Grad, nicht einmal mehr in der Nacht kühlte sich die Luft auf jene Temperatur ab, die ein gesunder Mensch als Körpertemperatur besitzt: 37 Grad. Auf dem Höhepunkt der nordamerikanischen Hitzewelle waren 110 Millionen US-Amerikaner betroffen, ein Drittel der US-Bevölkerung.In Deutschland gab es doppelt so viele Hitzetote wie VerkehrstoteAber auch in Deutschland waren viele Menschen vom Hitzetod bedroht, nach Angaben des Robert-Koch-Institutes fielen mehr als 3.100 der Hitze zum Opfer. Das sind mehr als doppelt so viele Menschen, die bei Verkehrsunfällen in Deutschland starben. „Langfristig muss es darum gehen, unsere Städte und unsere Häuser anzupassen“, fordert Henny Annette Grewe, Professorin für die medizinische Grundlagen der Pflege. „Wir brauchen Frischluftschneisen, um die angestaute heiße Luft aus den Straßenfluchten nachts auszuwaschen. Wir müssen die Städte begrünen, Bäume kühlen durch ihre Verdunstung bekanntlich.“ Nötig seien Wasserflächen, die kühlen. „Und müssen dafür sorgen, dass das Wasser, was durch die zunehmenden Starkregen zu uns kommt, nicht einfach durch die Kanalisation abfließt, sondern zur Verdunstungskühlung und Bewässerung zur Verfügung steht“, so Grewe.In einer Studie zum Zusammenhang zwischen Hitzewellen mit dem Klimawandel kamen Wissenschaftler zu dem Schluss, dass die Hitzewellen des Julis in der nördlichen Hemisphäre ohne globale Erwärmung „so gut wie unmöglich“ sind. Doch weil trotz des Pariser Klimaabkommens die weltweiten Emissionen immer weiter steigen und sich das Klima auf der Erde bereits erwärmt hat, würden solche Ereignisse nun aller 15 Jahre auf Nordamerika einschlagen, in Südeuropa aller 10 Jahre, in China sogar aller fünf.Mehr Hitze bedeutet vielerorts auch mehr Dürre – Brennpunkte in diesem Sommer lagen etwa in Somalia, Brasilien, China, Frankreich oder Spanien. Und beides, Hitze wie Dürre, erhöht die Waldbrandgefahr: Nach Erhebung des Atmosphärendienstes Copernicus ist die Waldbrand-Saison 2023 rekordverdächtig. Demnach gab es noch nie so viele Waldbrände auf der Nordhalbkugel wie in diesem Jahr, die Saison endet Ende Oktober. Und weil Waldbrände zusätzliches Kohlendioxid freisetzen, verstärken sie die Klimakrise, ohne dass der Mensch darauf noch einen Einfluss besitzt. Auch an den Polen ist es spürbar wärmer geworden. In der Antarktis wurden im Juli 8,7 Grad auf der Wernadski-Forschungsstation registriert, die höchste dort jemals gemessenen Julitemperaturen im antarktischen Winter. Solche Werte wirken sich natürlich auf das Eis aus: Während die Messdaten zu diesem Zeitpunkt eigentlich einen kräftigen Anstieg des sich bildenden Meereises belegen müssten, fehlen zu normalen Jahren gut 3 Millionen Quadratkilometer schwimmendes Eis. „Das, was wir derzeit in der Antarktis sehen, wäre ohne den Klimawandel nur einmal in fünf Millionen Jahren denkbar“, erklärte Olaf Eisen, Professor für Glaziologie am Alfred-Wegener-Institut: „Aber der Klimawandel wirkt nun einmal bereits jetzt.“ Mehr Hitze, das heißt mehr Dürre. Aber auch mehr RegenZum Beispiel in Österreich oder Slowenien: Anfang August prasselten dort binnen 12 Stunden stellenweise 200 Liter Regen nieder, mehr als in einem normalen August insgesamt. 200 Liter – das ist so viel Wasser, wie in 20 handelsübliche Eimer passt. Entsprechend groß war die Zerstörung, zwei Drittel Sloweniens versanken in den Fluten. Auch hier spielt der Klimawandel eine Rolle, wie Meteorologe Jürgen Schmidt vom „Wetterkontor“ dem Redaktionsnetzwerk Deutschland erklärte: „Es gibt das physikalische Prinzip, dass warme Luft mehr Feuchtigkeit aufnehmen kann als kalte.“ Gemäß der Clausius-Clapeyron-Gleichung kann die Atmosphäre je 1 Grad Temperaturanstieg 7 Prozent mehr Wasserdampf aufnehmen. Mit steigender Erderhitzung steht dadurch insgesamt mehr Wasser für Niederschläge zur Verfügung.Dazu kommt, dass die Temperatur der Weltmeere 2023 sprunghaft einen neuen Rekord erreichte: Ende August lag die sie durchschnittlich bei 21,1 Grad, 0,4 Grad mehr als im vergangenen Jahr. „Es wird nicht nur an Land immer wärmer, sondern natürlich auch im Wasser“, erläutert Christian Wild, Professor für Marine Ökologie an der Universität Bremen. Neben der globalen Erwärmung kämen in diesem Jahr zwei Sondereffekte hinzu: „2022 ist ein Unterwasservulkan ausgebrochen, wodurch den Meeren zusätzlich Wärmeenergie zugeführt wurde. Und im Juni begann das Wetterphänomen El Niño.“ Dieses führe zu einer starken Erwärmung der oberen Wasserschichten im Pazifik in Tropennähe entlang der mittel- und südamerikanischen Küste. Und je wärmer die Ozeane sind, desto mehr Wasser verdunstet. So war der Sommer 2023 jenseits der Hitzewellen auch einer der weltweiten Hochwasserkatastrophen: An der Atlantikküste im Osten Kanadas fielen im Juli binnen 24 Stunden 250 Liter Regen, was in Teilen von Halifax und im Zentrum von Nova Scotia zu verheerenden und tödlichen Überschwemmungen führte. Die Regenmassen im nordindischen Bundesstaat Himachal Pradesh rissen 50 Menschen in den Tod, in Südkorea kamen mehr als 30 Menschen ums Leben. Die Türkei wurde in diesem Sommer gleich mehrmals Schauplatz von Hochwasserkatastrophen, genauso wie Brasilien, die USA oder der Balkan. Auf Kuba fielen in den Ostprovinzen im Juni 360 Liter Regen binnen 24 Stunden, im Kosovo sorgten 54 Liter binnen einer Stunde für tödliche Überschwemmungen. Das ist nur eine kleine Auswahl der Hochwasserkatastrophen dieses Sommers.In Deutschland war der September 3,9 Grad wärmer als sonst: der wärmste September, seit es Aufzeichnungen gibtWie in der Atmosphäre alles fein austariert ist, wie einzelne Wetterereignisse miteinander zusammen hängen, das zeigte der September: Am 12. des Monats wurden an der Wetterstation Waghäusel-Kirrlach südlich von Heidelberg 33,3 Grad gemessen. Nicht nur das: Hier kletterte das Thermometer sogar an zehn Tagen von 30 Septembertagen über die 30-Grad-Marke, es gab also zehn „heiße Tage“. Und weil auch andere Stationen solche hohen Messwerte lieferten, war dieser September in Deutschland extrem: Nach Auswertung der gut 2.000 Messstationen des Deutschen Wetterdienstes DWD betrug die Durchschnittstemperatur hierzulande 17,2 Grad Celsius. Das ist 3,9 Grad wärmer, als ein September in der international gültigen Referenzperiode von 1961 bis 1990.Damit geht der September 2023 als der wärmste in die bislang 142 Jahre währenden Zeitreihe der deutschen Wetteraufzeichnung ein. Selbst die bisherigen Rekorde wurden deutlich übertroffen, die September der Jahre 2006 und 2016 waren nach DWD-Angaben durchschnittlich jeweils 16,9 Grad Celsius heiß. Tobias Fuchs, Leiter des Geschäftsbereichs Klima und Umwelt beim DWD, sieht einen „weiteren Beleg dafür, dass wir uns mitten im Klimawandel befinden."Ursache für den nicht enden wollenden Sommer war eine so genannte Omega-Wetterlage. Über Mitteleuropa hielt sich ein bis weit in die Atmosphäre reichendes Hochdruckgebiet, die atlantischen Tiefdruckgebiete werden bei dieser in einem Ω-Bogen um Mitteleuropa herum gelenkt. Was hier das sonnige und trockene Sommerwetter erzeugte, sorgte westlich und östlich für katastrophalen Starkregen: Anfang September sorgte ein Sturmtief zuerst in Bulgarien, der Türkei und Griechenland für Überschwemmungen mit mindestens 27 Toten. Anschließend zog es weiter nach Südwesten, wo es auf die libysche Küste traf, einen Damm zum Bersten brachte und mindestens 12.000 Menschen in den Tod riss.Und während die Omega-Wetterlage noch Anfang Oktober hierzulande für sommerliches Wetter sorgte, traf es Griechenland zum zweiten Mal: In der Region am Golf von Pagasai sorgten Ende September wieder mehr als 100 Liter Regen pro Quadratmeter für schwere Überschwemmungen, in jenem Gebiet, das bereits Anfang September von den Wassermassen schwer verwüstet worden war.
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