Klimaforscher Mojib Latif: „Das Meer bestimmt Tempo und Ausmaß des Klimawandels“

Blue New Deal Er ist einer der bekanntesten Klimaforscher Deutschlands: Mojib Latif warnt vor einem Massenaussterben in den Ozeanen, wenn wir weitermachen wie bisher
Ausgabe 38/2023
Klimaforscher Mojib Latif: „Das Meer bestimmt Tempo und Ausmaß des Klimawandels“

Foto: Melina Mörsdorf/laif

Der Meteorologe und Ozeanograf Mojib Latif forscht seit vier Jahrzehnten zum Klima. Hier erzählt er, welche Rolle die Weltmeere im Klimasystem der Erde spielen – und was wir tun müssen, um ihre Ökosysteme zu bewahren.

der Freitag: Herr Latif, wie würden Sie das Verhältnis zwischen Mensch und Ozean beschreiben?

Mojib Latif: Das Meer gibt uns viel. Es dient unter anderem als Ort der Erholung, Nahrungsquelle und Verkehrsweg. Aber wir schätzen es nicht besonders. Stattdessen leiten wir alle möglichen Abfälle ein, von Plastik über Düngemittel aus der Landwirtschaft bis hin zu radioaktiv verseuchtem Wasser und Atommüll. Und der menschengemachte Klimawandel bedroht das Leben im Ozean in immer größerem Maße.

Zu diesem Projekt

Die Serie „Blue New Deal“ ist ein Projekt von drei freien ReporterInnen – Svenja Beller, Julia Lauter und Martin Theis – und einem Fotografen, Fabian Weiss. Im Freitag werden sie in den nächsten zwölf Monaten nach Lösungen suchen, die sowohl die Ozeane schützen als auch deren Potenzial nutzen, die Erderwärmung zu stoppen. Alle Artikel zur Serie finden Sie unter freitag.de/blue-new-deal

Das Projekt wird vom European Journalism Center (EJC) über den Solutions Journalism Accelerator finanziert. Dieser Fonds wird von der Bill & Melinda Gates Foundation unterstützt. Weitere Informationen zur Finanzierung finden Sie hier. Alle Reisen werden kompensiert.

Sie sprechen bei den durch uns angestoßenen Veränderungen auch von einem Ozeanwandel. Was meinen Sie damit?

Das ist ein Fass ohne Boden. Aber um beim Klima zu bleiben: Der Ozean hat in den vergangenen Jahrzehnten über 90 Prozent der Wärme aufgenommen, die durch den menschlichen Ausstoß von Treibhausgasen zusätzlich im System verblieben ist. Das Wasser erwärmt sich allmählich, bis in Tausende Meter Tiefe. Einerseits dehnt es sich dadurch aus und der Meeresspiegel steigt. Andererseits führt das zu Stress für bestimmte Lebewesen, weshalb etwa Korallen absterben. Warmes Wasser kann aber auch weniger Sauerstoff aufnehmen. So breiten sich die Todeszonen mit kaum Sauerstoff aus, in denen Pflanzen und Tiere nicht mehr leben können. Hinzu kommt, dass die Meere aktuell gut ein Viertel des CO2 aufnehmen, welches die Menschheit ausstößt. Im Ozean wirkt es als Umweltgift.

Wir führen also ein großes Chemieexperiment mit dem Ozean durch?

Schon in der Schule haben wir gelernt, dass Kohlensäure entsteht, wenn CO2 auf H2O, also Wasser, trifft. Das führt zu einer Versauerung des Meerwassers, die die Lebewesen darin nur schlecht kompensieren können. Besonders gefährdet sind Organismen, deren Schalen oder Skelettstrukturen aus Kalk bestehen, wie Korallen, Muscheln oder Krebse. In polaren Gewässern bildet die Minikrebsart Krill aber zum Beispiel eine Grundlage der Nahrungskette. Wenn wir weitermachen wie bisher, riskieren wir ein Massenaussterben in den Ozeanen.

Welche Folgen hat das, was mit den Weltmeeren passiert, für die Lebewesen an Land?

Die Meere bestimmen Tempo und Ausmaß des Klimawandels für die kommenden Jahrhunderte. Im Moment wirkt der Ozean als Puffer, indem er eben Wärme und CO2 aufnimmt. Das wird nicht unbegrenzt so weitergehen. Wir beobachten bereits, dass der Anteil der CO2-Emissionen sinkt, den der Ozean aufnimmt. Die Erderwärmung schreitet umso schneller voran, je wärmer und saurer die Ozeane werden. Und um unsere Klimaziele einzuhalten, müssten wir Emissionen von Treibhausgasen dann noch weiter zurückschrauben als ohnehin schon.

Wenn der Ozean die treibende Kraft des Klimasystems ist, wie groß ist dann sein Einfluss auf unser Wetter?

Seit April dieses Jahres wurden im globalen Mittel neue Rekordtemperaturen an der Wasseroberfläche gemessen. Direkt vor unserer Haustür haben sich Nordsee, Ostsee und Mittelmeer erwärmt. Je heißer es ist, desto mehr Wasser verdunstet und reichert sich in der Atmosphäre an. Bei entsprechender Wetterlage bedeutet das mehr Regen.

Liegt darin der Grund für den verregneten Hochsommer in Deutschland?

Man kann kein einzelnes Ereignis herausnehmen und sagen: genau das ist deswegen passiert. Aber die Häufung der Starkregenereignisse in Europa und dem Rest der Welt wie auch die Rekordniederschläge der vergangenen Jahre können wir eindeutig auf die Erwärmung der Meere zurückführen.

Zur Person

Mojib Latif wurde 1954 geboren, studierte Meteorologie und promovierte in Ozeanografie. Er ist Seniorprofessor an der Christian-Albrechts-Universität in Kiel, Schleswig-Holstein, und forscht am GEOMAR Helmholtz-Zentrum für Ozeanforschung Kiel. Von ihm erschien zuletzt das Buch Countdown. Unsere Zeit läuft ab – was wir der Klimakatastrophe noch entgegensetzen können im Herder-Verlag.

Welche Rolle spielen die Ozeane auf Weltklimakonferenzen?

Auch da steht im Vordergrund, was die Menschen selbst wahrnehmen – also die Wetterextreme und an den Küsten der steigende Meeresspiegel. Außerdem geht es auf den Konferenzen eigentlich nur ums Geld, die Umwelt scheint nur als Deckmantel zu dienen. Die Ozeane sind in der Öffentlichkeit leider nicht so präsent, wie sie sein müssten. Immerhin bedecken sie zwei Drittel der Erdoberfläche und bilden eine unverzichtbare Säule der Welternährung. Kaum auszudenken, was passiert, wenn diese Säule wegbricht.

Wie sähe denn ein physikalisch plausibles Worst-Case-Szenario aus, wenn die Menschheit einfach weitermacht wie bisher?

Ich bin kein Freund zukünftiger Schreckensszenarien. Eigentlich muss man nur deutlich machen, was bereits geschehen ist. Die industriellen Fangflotten aus Europa rücken schon bis nach Afrika aus, weil sie bei uns nicht mehr genügend Fische im Meer finden. Der Plastikmüll wird immer mehr und bleibt über Jahrhunderte im Wasser. In Japan wurde das kontaminierte Kühlwasser aus Fukushima ins Meer geleitet. Die Nährstoffe aus landwirtschaftlichen Düngemitteln wiederum führen zu Algenblüte, dem massenhaften Wachsen bestimmter Algenarten an der Wasseroberfläche, wodurch es nach deren Absterben anderen Pflanzen und Lebewesen an Sauerstoff mangelt. Wie schnell die Ökosysteme kippen, können wir nicht vorhersagen. Wir wissen aber, dass der Prozess beschleunigt wird, wenn verschiedene Stressfaktoren zusammenkommen.

Was können wir jetzt tun?

Wir müssen vor allem aufhören, das Falsche zu tun – zum Beispiel sollten wir die Überfischung stoppen. Wir wissen, dass sich Ökosysteme innerhalb von Schutzzonen sehr schnell regenerieren können. Wenn man also ein paar Jahre ein bisschen langsamer macht, kann man danach umso mehr Fisch fangen. Andernfalls aber kippen die Ökosysteme, Fischbestände brechen komplett zusammen und der Hunger auf der Welt wird dramatisch zunehmen. Wir müssen uns von dem kurzfristigen Denken verabschieden, dem Immer-mehr und Immer-schneller.

Das Ziel unseres Wirtschaftssystems ist aber Wachstum, das an einen immer größeren Verbrauch von Ressourcen gekoppelt ist.

Ich glaube schon, dass wir innerhalb unserer derzeitigen Wirtschaftsordnung etwas ändern können. Derzeit wird Umweltverschmutzung belohnt. Wir müssen die Subventionen für nicht nachhaltige Produktionsweisen herunterfahren, dann würden Alternativen sehr schnell Marktanteile gewinnen. Die Menschheit steht hier aber vor einem völlig neuen Problem, weil dieser Wandel global passieren muss. Alle Länder müssen gemeinsam handeln, weil letztendlich alle sich die Atmosphäre und den Ozean teilen. Das verdeutlichte der Fall eines Containerschiffes, das im Nordpazifik in Seenot geriet. Es hatte Tausende Bade-Enten geladen, die ins Wasser fielen. Im Laufe der Zeit wurden also gelbe Entchen in Hongkong, Australien und an der Ostküste Amerikas gesichtet. Sie sind mit dem Golfstrom nach Europa gelangt und haben die Südspitze Englands erreicht. Wir sitzen alle im selben Boot.

Was gibt Ihnen denn Hoffnung, dass wir das Ruder dieses Bootes noch rumreißen können?

Dass die Lösungen bereits auf der Hand liegen. Wir müssen keine Kohle, kein Gas und kein Öl verbrennen. Wir sind umgeben von erneuerbarer Energie. Wir müssten nur einen lächerlichen Bruchteil der vorhandenen Sonnenenergie nutzen, um den weltweiten Bedarf zu decken. Die Technologie dazu gibt es bereits. Und überlegen Sie nur mal, wie neue Technologien sich durchsetzen konnten, sobald sie ausgereift waren – wie schnell es vom Pferdewagen zum Automobil ging, von der Dampflokomotive zur Diesel-Lok, vom Festnetztelefon zum Handy und schließlich zum Smartphone.

Allerdings müsste in großem Maße investiert werden …

Immerhin wurden in Deutschland im Zuge der Ukrainekrise 100 Milliarden Euro Sondervermögen für die Bundeswehr genehmigt. Ich sage nicht, dass das falsch ist. Ich sage nur: Es stimmt nicht, dass die erneuerbaren Energien zu teuer sind. Denn wenn man wirklich will, ist Geld da. Es gibt also keinen Grund, warum wir nicht auch die Energiewende schaffen sollten.

Parallel wird auch im Ozean an Technologien geforscht, etwa Geoengineering, bei dem der Mensch in natürliche Kreisläufe eingreift, bis zur Einlagerung von CO2 am Meeresboden. Was halten Sie von solchen High-Tech-Lösungen?

Die Systeme der Meere sind so komplex, dass ich mich in meiner Forschung nie in solche Gefilde gewagt habe. Am Ende wissen wir nicht genau, was wir tun – und es gibt immer Nebenwirkungen. Ich finde, die einfachste Lösung ist die beste. Also wenn ich ein Problem mit CO2 habe, dann stoße ich das am besten nicht aus. Was ist das überhaupt für ein Wahnsinn, mit unglaublich hohen Geldsummen eine komplexe Infrastruktur aufzubauen, nur um die fossilen Brennstoffe länger am Leben halten zu können? Davon profitieren am Ende nur einige wenige.

Über welche positive Entwicklung haben Sie sich zuletzt gefreut?

Als ich las, dass im US-amerikanischen Bundesstaat Montana der Klage junger Menschen stattgegeben wurde, die sich gegen die weitere Ausbeutung fossiler Brennstoffe einsetzen. Künftig muss der Staat bei der Genehmigung entsprechender Projekte immer die Klimafolgen berücksichtigen. Ähnlich wegweisend war die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts hierzulande, die das deutsche Klimaschutzgesetz in Teilen für unzureichend erklärte. In dem Moment, in dem weitere solcher Urteile gesprochen werden, gibt es glaube ich einen juristischen Dammbruch. Dann werden sich Unternehmen genau überlegen, ob sie nicht lieber auf eine nachhaltige Produktion umstellen. Die Justiz ist ein großer Hebel. Auch deshalb glaube ich, dass wir es noch in der Hand haben, die Ozeane und das Klima zu schützen.

Martin Theis ist freier Reporter mit dem Schwerpunkt Klimawandel. Er studierte Rhetorik in Tübingen und besuchte die Reportageschule in Reutlingen. Seit zehn Jahren schreibt er für Magazine im deutschsprachigen Raum. 2023 erschien sein Buch Endzeitreise – Als mein Sohn mich fragte, wann die Welt untergeht im Tropen Verlag. Darin begibt er sich an die Fronten der Klimakrise und auf Expedition zu den eigenen Wurzeln in der VW-Stadt Baunatal.

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Geschrieben von

Martin Theis

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Martin Theis ist freier Reporter mit dem Schwerpunkt Klimawandel. Er studierte Rhetorik in Tübingen und besuchte die Reportageschule in Reutlingen. Seit zehn Jahren schreibt er für Magazine im deutschsprachigen Raum. 2023 erschien sein Buch Endzeitreise - Als mein Sohn mich fragte, wann die Welt untergeht im Tropen Verlag. Darin begibt er sich an die Fronten der Klimakrise und auf Expedition zu den eigenen Wurzeln in der VW-Stadt Baunatal.

Martin Theis

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